: Könige ohne Volk
■ Über die Demarkationslinien des Postfordismus: Bands und Aktivisten aus dem Hamburger Wohlfahrtssausschuß-Umfeld proben im Grenzcamp Zittau den Übertritt
Es ist 14.00 Uhr am Samstag und der Rathausplatz in Zittau macht einen ziemlich leergefegten Eindruck. An einem Lastwagen beginnen die Three Normal Beatles aus Hamburg ihr Konzert und begrüßen die Bürger dieser Kleinstadt im äußersten Zipfel der größeren BRD, einige Kilometer von den Grenzen nach Tschechien und Polen. Von einem Turm herunter betrachten ein paar Touristen das merkwürdige Bild auf dem alten Platz. Die Bürger selbst lassen sich von einigen Schaulustigen vertreten, Zaungäste in ihrer eigenen Stadt, während die Band einer Menge von 200 Leuten Musik zuspielt; es sind die Teilnehmer des Camps gegen die Politik an den Grenzen: „Keine Grenze ist für immer!“
Die Bands - dabei auch Soup de Null,La Hengst/Achinger Supergroup und der Elektroniker Thies Mynther von Stella - kommen aus Hamburg und beteiligen sich im Rahmen des Wohlfahrtsausschuß/Basisorganisation zusammen mit Chicks on Speed aus München an dem Grenzcamp. Sie wollen einen Umzug zum Grenzübergang vor der Stadt durchführen, an dem sie selbst als Könige und Königinnen teilnehmen, in Bademantelrobe mit Scherpe und Krone. An der Grenze tritt später der BGS in die Rolle des Zaungastes, naturgemäß in grün und zahlreicher als die Bürger in der Stadt; Seine Ordnungsaufgaben wirken hier wie bei der Kontrolle des Durcheinanders, das der Zug neben dem Grenzübergang verursacht, hektisch und lächerlich.Am Abend spielen alle Bands im Camp, wo mittlerweile über 500 Teilnehmer eingetroffen sind.
Die Hamburger wollten sich an der zehntägigen Aktion in Zittau beteiligen, um der - auch von einer rot-grünen Regierung unvermindert fortgesetzten - Politik gegen Flüchtlinge an einem Ort des Geschehens praktisch Widerstand zu leisten. Sie hofften, auf dem bundesweiten Treffen mit anderen Gruppen in eine Diskussion über Form und Inhalt solcher Aktionen zu kommen.
Eine Veranstaltung dazu war für den Sonntagmittag angesetzt, denn nachdem die Grenzen nach Polen und Tschechien zu Natoinnengrenzen geworden sind und Menschenrechtsargumente die BRD auf dem Weg zur kriegführenden Macht abgesichert hat, stehen wesentliche Elemente der Ausrichtung dieses Widerstands in Frage. Aber selbst wenn die innereuropäischen Grenzen durchlässiger werden, die Demarkationslinien zwischen Reichtum und Armut, Zentren und Peripherien postfordistischer Produktionsformen und Konsumtionsstätten, dem Westen und dem Rest der Niedriglohnländer zeichnen sich schärfer als je zuvor.
Das Grenzcamp war jedoch von den Behörden mit fadenscheinigen Gründen vom ursprünglich genehmigten Platz vertrieben worden und auf einem ehemaligen NVA-Gelände nur vorübergehend geduldet. Es wurde mit Ultimaten und miesen Angebote rund um die Uhr in die Diskussion über ihre eigenen Probleme verwickelt, und so verstärkte sich der Mangel einer inhaltlichen Vermittlung nach innen und außen. Auch am Sonntag konnte die Diskussionsveranstaltung nicht durchgeführt werden, die sich genau mit dieser Schwäche beschäftigen wollte.
Die Gruppe unter den Königskronen reiste am Sonntagabend wieder ab. Sie war während des Umzugs im Städtchen hauptsächlich mit der Erwiderung spontaner Grußbotschaften von Kindern beschäftigt; gelegentlich mußte verwirrten Eltern geholfen werden, da sie den Fragen ihrer Nachkommen nicht mehr gewachsen waren: „Wir sind Könige und wir wollen kein Volk.“
Das Camp hat jetzt einen Platz an der Bundesstrasse von Zittau nach Görlitz zugewiesen bekommen. Von dort werden noch bis zum Sonnabend dieser Woche Aktionen in der Stadt und an den Grenzen koordiniert. H. Tams/R. Ohrt
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