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Per Schiff über die Rollberge

Reiher, Störche, Bockwurst mit Senf, viele Heimatgeschichten und immer bergauf – fast einhundert Meter: Eine Schifffahrt auf dem Oberländischen Kanal in Polen, auf der die Reisenden nicht nur von Libellen eingeholt werden    ■ Von Dietmar Falk

„Auf der rechten Seite beachten Sie bitte: ein Storch.“ Der Reiseleiter weiß, was seine deutsche Gruppe zu sehen wünscht. Man stürzt nach steuerbord, die Kameras klicken. Wir befinden uns auf dem Oberländischen Kanal, der bis 1945 zu Ostpreußen gehörte. Heute verläuft er als Kanal Elblaski im Nordosten von Polen.

Morgens um acht sollte die Fahrt in Elblag beginnen. Nicht alle sind so pünktlich wie die deutsche Gruppe, die die 20 Sitzplätze an Deck der „Birkut“ schon belegt, als ich entere. Wir warten auf weitere Fahrgäste. Sonnenhüte werden zurechtgerückt, Erinnerungsfotos geschossen, Reiseliteratur studiert. Als die letzten Passagiere eintreffen, eine polnische Reisegruppe, ist es 20 vor neun.

„Ostpreußen rühmte sich dreier Wunder: der Marienburg, der Wanderdünen an der Ostseeküste und des Oberländischen Kanals.“ Der Reiseleiter hat den Schiffslautsprecher entdeckt. Heute kann sich Polen der Wunder rühmen. Doch dieses Detail möchte wohl niemand aus der deutschen Gruppe hören. Ihr durchschnittliches Alter liegt über 60 Jahre. Entschlossene Gesichter, vor Eifer gerötet. Man ahnt, was sie veranlasst hat, diesen Teil Polens zu besuchen. Obwohl der Zweite Weltkrieg längst vorbei ist, ist er präsent: „Wie lange waren Sie '45 von Insterburg nach Danzig unterwegs?“ Man tauscht Heimatorte und Flüchtlingsrouten aus.

Wir müssen uns gedulden, bis wir die „Schiefen Ebenen“ erblicken, die den Kanal zum „Wunder“ machen. Vorerst erreichen wir unter abwechselnder deutsch-polnischer Beschallung den Drausensee. Glaubt man den Worten, ist der See Lebensraum für 240 Vogelarten. Vor dem Bug taucht ein Kormoran nach Beute, am Heck klebt ein Schwanz schwarzköpfiger Möwen. Schnell gewöhnen wir uns an die Reiher, die ab und an im Schilfdickicht des Ufers stehen. Nur die Störche veranlassen jedesmal zu Erstaunen. Vereinzelte Angler am Uferrand sind in Gedanken versunken. Eine Libelle überholt.

Schwer vorstellbar, dass auf dem Kanal noch zur Jahrhundertwende jährlich bis zu 90.000 Tonnen Fracht transportiert wurden. Vom heutigen Elblag wurden Steinkohle und Gips zum Oberland geschafft. Getreide und Holz nahmen den umgekehrten Weg. Als das Bahnnetz Ostpreußens in den 80ern des 19. Jahrhunderts dichter wurde, begann die wirtschaftliche Talfahrt des Kanals. Dabei war er erst 1860 nach 14 Jahren Bauzeit fertig geworden.

Nach der Fahrt auf dem fast zehn Kilometer langen Drausensee verengt sich unsere Passage. Wie in Zeitlupe zieht der Sog der „Birkut“ Seerosenblätter unter die Wasseroberfläche. Ein Storch fliegt auf. „Der sucht sich seine Mittagsmahlzeit“; das Familienoberhaupt neben mir im kurzärmeligen Hemd und mit der Brille des Studienrates macht die Tour nicht zum ersten Mal. Diesmal sind Frau und Kinder dabei. Rüdiger und Martina, beide um die 30, zeigen unterschiedliches Interesse an den Ausführungen ihres Vaters: „Kämmersdorf, da hinten, das spitze Gebäude.“ Er scheint hier zu Hause gewesen zu sein. Zur Freude seines Vaters bannt Rüdiger es mit seinem Teleobjektiv auf Film. Martina sitzt derweil auf einem leeren Kasten Cola am Abgang zur „Bar Birkut“ und hält ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen. Wie alle wartet sie seit drei Stunden auf die erste der fünf „Schiefen Ebenen“.

Als der Königsberger Baurat Georg Steenke 1837 mit der Planung des Oberländischen Kanals begann, hatte er ein Problem: Der Höhenunterschied zwischen dem Drausensee und der Oberländischen Seenplatte beträgt fast 100 Meter. Die erforderlichen 32 Schleusen hätten einen preiswerten Bau und den geplanten schnellen Gütertransport unmöglich gemacht. Die Lösung fand Steenke am Morriskanal in den USA. Dort überwand man den Höhenunterschied mit geneigten Ebenen, auf denen die Schiffe über Land transportiert wurden. Diese Idee und die damit verbundenen noch immer hohen Kosten musste Steenke König Friedrich Wilhelm IV. schmackhaft machen. Die Legende weiß, dass er den Monarchen mit dem Hinweis überzeugte, der Kanal würde einmalig in Europa sein.

Das ist er heute noch. Seit die polnische Regierung den Kanal 1978 unter Denkmalschutz gestellt hat, haben Touristen ihn fest in der Hand. Als wir die erste schiefe Ebene bei Caluny Nowe erreichen, endet das Wasser, und 13 Meter Höhe blicken auf uns herab. Endlich öffnet auch Martina ihre Augen, und auf der folgenden Klettertour begreifen wir, warum dem Volksmund der Name „Rollberge“ für die schiefen Ebenen als treffend erschien. Während vor unseren Augen ein Schiff den Hang hinaufgleitet, rollt auf der rechten Nebenspur der Schlitten herunter, der für die „Birkut“ bestimmt ist. Er taucht ins Wasser, und mit behenden Griffen zurrt die Besatzung das Schiff auf ihm fest.

Den Kameraträgern fällt es schwer, sich zwischen den Blicken nach oben oder unten zu entscheiden. Nur für den Studienrat scheint der Vorgang Routine zu sein: „Jeder Rollberg hat seine Turbine. Sonst könnte das ja nicht klappen.“ Oben angekommen, wird die „Birkut“ von ihrem Schlitten befreit. Als wir gegen zwölf Uhr den Gipfel des zweiten Rollbergs bei Jelenie erklimmen, greift der Reiseführer wieder zum Lautsprecher. „Sehen Sie links, das Wasserrad dreht sich.“ Auch er bleibt nähere Erläuterungen schuldig, die in einer Broschüre mit „Richtungsräder“, „Rohrleitung“ oder „große Trommel“ bezeichnet sind. Doch wen interessiert's? Man ist Tourist oder auf Heimatbesuch und murmelt „beeindruckend“.

Fast unbemerkt sind indessen Wolken aufgezogen. Die meisten gehen nach unten, wo in der Bar 45 Plätze zur Verfügung stehen. Nur ein hartnäckiger Rest verfolgt mit mir unter zunehmendem Regen das „Wunder“ des dritten Rollbergs. Als wir vor Blitzen kapitulieren und ebenfalls nach unten fliehen müssen, empfängt uns der Geruch von Bockwurst mit Senf. Längst haben es sich alle gemütlich gemacht, um bei einem Bier der Marke Zywiec die 18 Meter Höhe der vierten schiefen Ebene bei Katy zu ignorieren. Den Wasserspiegel betrachten wir jetzt fast auf Nasenhöhe hinter Glas.

Um 12.50 Uhr erreicht die „Birkut“ nach über vier Stunden und fast 30 Kilometer langer Fahrt den letzten Rollberg von Buczyniec. Niemand weiß ihn mehr zu schätzen. Die deutsche Gruppe hat genug Heimat erlebt. Wie die polnische Schar ist sie froh über den bereitstehenden Bus. Wir Zurückbleibenden haben noch ein Drittel des Wegs vor uns, fast zwei Stunden bis zur Endstation Maldyty. Zurück nach Elblag nehmen wir den Zug.

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