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„Dienstreisen“ in den Krieg in Dagestan

Durch Inkompetenz und Gleichgültigkeit hat der Kreml die Lage im Nordkaukasus angeheizt. Auch die Armeeführung erweist sich als unfähig. Davon könnten die Islamisten profitieren  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Papa, Papa“, schreit das kleine Mädchen, und seine Mutter bricht in Tränen aus, als der Zug den Bahnhof schließlich verlässt. Szenen, die inzwischen wieder zum russischen Alltag gehören. Aus allen Teilen des Landes werden Armee, Miliz und Spezialeinheiten des Innenministeriums zusammengezogen. „Auf Dienstreise“ heißt es in der offiziellen Sprachregelung. Tatsächlich geht es an die kaukasische Front in Dagestan.

In Russland herrscht Krieg. Dennoch halten die politisch Verantwortlichen in Moskau an der Version fest, in der Kaukasusrepublik fände nicht viel mehr als eine großangelegte Polizeimaßnahme gegen kriminelle Elemente statt. Bereits in der vergangenen Woche meldete Ministerpräsident Wladimir Putin Vollzug. Die sogenannten wahabitischen Rebellen aus Tschetschenien seien vernichtend geschlagen worden. General Georgi Schpak lieferte Einzelheiten: Demnach hatte die Armee 1.000 Freischärler vernichtet. Nur fand sich auf dem Schlachtfeld nicht eine Leiche. Schpak bewies indes Phantasie: „Um ihre Toten abzutransportieren, hatten die Tschetschenen 1.500 Esel mitgebracht. Unsere Aufklärung hat sie alle gezählt und weiß genau, was in Tschetschenien vorgeht.“

24 Stunden später besetzten zweitausend Freischärler mehrere Dörfer in der Bergregion und griffen gleichzeitig die strategisch wichtige Stadt Chassawjurt in Dagestan an der Grenze zu Tschetschenien an. Armee und Aufklärung hatte es kalt erwischt.

Boris Jelzin, Präsident und oberster Befehlshaber, warf den Militärs „Schlampigkeit“ vor, ohne personelle Konsequenzen zu ziehen. Das Oberkommando in Dagestan hat ohnehin schon viermal innerhalb eines Monats zwischen Verteidigungs- und Innenministerium hin und her gewechselt. Die Unfähigkeit der Generalität ist keine neue Erkenntnis.

Dennoch trifft die Hauptschuld den Kreml, der aus Inkompetenz und Gleichgültigkeit den unzähligen Schwierigkeiten in der nordkaukasischen Region keine Aufmerksamkeit schenkte. Statt die angespannte soziale Lage in Tschetschenien zu lindern und mit dem gemäßigten Präsidenten Aslan Maschadow das Gespräch zu suchen, hat der Kreml durch Ignoranz die militante islamistische Opposition munitioniert. Ein Lehrstück fehlender Sensibilität für ethnische Empfindlichkeiten bot das Innenministerium letzte Woche: Einheiten griffen die Dörfer Karamachi und Chabanmachi an, deren Einwohner, dagestanische Wahabiten, sich schon vor einem Jahr von der weltlichen Führung in Machatschkala losgesagt und eine religiöse Ordnung errichtet hatten. Um eine Eskalation des Konfliktes in der Vielvölkerrepublik zu vermeiden, hatte Republikchef Mogamed Mogamedow die eigenmächtige Entscheidung stillschweigend geduldet. Er warnte das Innenministerium davor, Gewalt anzuwenden. Der Appell wurde nicht erhört. Folge: Moskau eröffnete eine dritte Front, brachte den bisher an den Rändern tobenden Krieg ins Landesinnere unweit der Hauptstadt und vernichtet Bürger Dagestans in ihren eigenen Häusern. Wie üblich haperte es bei der militärischen Ausführung. Seither ist die Hauptschlagkraft der Russen, die hohe Verluste zu beklagen haben, an diesem Frontabschnitt gebunden und fehlt in der entscheidenden Grenzregion.

Je länger der Krieg dauert, desto kritischer dürfte die Haltung der Dagestanis gegenüber den russischen Verteidigungsbemühungen werden. Denn wo die russischen Befreier auftauchen, sinken die Dörfer in Schutt und Asche. Die Taktik der Rebellen könnte daher langfristig aufgehen: durch mobile Kommandos Dagestan in eine Kriegswüste zu verwandeln.

Nach der Explosion eines Wohnhauses in Moskau, die vorgestern mindestens 90 Menschen das Leben kostete, tappen die Ermittler noch im Dunkeln. Die naheliegende Vermutung, das Attentat sei ein Racheakt und dessen Spur führe in den Kaukasus, hat sich bisher nicht bestätigen lassen. Premier Putin schloss auch die Möglichkeit nicht aus, dass die Detonation auf eine fahrlässige Lagerung von Sprengstoff zurückzuführen sei. Unterdessen ging gestern im exklusiven Einkaufszentrum am Moskauer Manegeplatz eine Bombendrohung ein. Erst vergangene Woche war dort ein Sprengsatz explodiert.

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