■ Die türkische Journalistin Nadire Mater steht vor Gericht, weil sie in ihrem Buch ehemalige Wehrpflichtige zu Wort kommen lässt. Der Prozess wirkt wie ein Relikt früherer Zeiten. Denn die Türkei versucht ihr Image bei den Menschenrechten zu verbessern: Frau „beleidigt“ Militär
Offiziell ist auch in der Türkei die Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Eine Zensur findet nicht statt, und auf den ersten Blick können die Medien ohne Einschränkungen arbeiten. Kritik gibt es reichlich, häufig sogar in rüder Form.
„Wer weiß, worauf es ankommt“, meinte unlängst ein Kolumnist der linksliberalen Tageszeitung Radikal, kann schreiben was er will. Solange er keine Tabubereiche berührt. Der größte dieser Tabubereiche ist die „kurdische Frage“, gleich danach kommt der islamische Fundamentalismus.
Als Institution ist das Militär sakrosant. Die brisanteste Mischung ist deshalb Kritik am Militär im Zusammenhang mit dem Krieg in den kurdischen Gebieten. Allein die Unterstellung, Propaganda für die PKK betrieben zu haben, etwa indem Zeitungen Interviews mit PKK-Chef Abdullah Öcalan veröffentlichten, reichte in der Vergangenheit für eine Anklage aus.
So gesehen war es nicht überraschend, dass die Staatsanwaltschaft letzte Woche Anklage gegen die Journalistin Nadire Mater erhob und diese sich gestern vor Gericht verantworten musste. Mater hatte es gewagt, ein Buch vorzulegen, das nicht nur die kurdische Frage, sondern vor allem die Rolle der Armee im Krieg in den kurdischen Bergen zum Gegenstand hatte. Allerdings keineswegs in Form eines Pamphlets, sondern als eigentlich unangreifbare journalistische Arbeit: Nadire Mater hat Soldaten interviewt, nachdem sie aus ihrem Einsatz im kurdischen Aufstandsgebiet zurückkamen.
Neben speziellen Eliteteams hat die türkische Armee in dem 15 Jahre andauernden Krieg im Südosten des Landes Tausende und Abertausende normale Wehrpflichtige eingesetzt. Etliche dieser „Mehmets“, wie der türkische Soldat synonym genannt wird, hat Nadire gesprochen und letztlich ein Buch mit Interviews von 42 Soldaten publiziert: „Mehmetin Kitabin“ – „Mehmets Buch“. In dem Buch (siehe Auszug rechts) erzählen die Soldaten mit oft bestürzender Offenheit über die Gräuel des Krieges. Das Buch wurde in wenigen Wochen ein großer Erfolg. Bis zu seinem Verbot am 23. Juni wurden 15.000 Exemplare verkauft, rechnet man die Raubdrucke dazu, waren es mindestens 30.000. Auch seit dem Verbot ist das Buch noch zu haben.
Die türkische Öffentlichkeit reagierte ganz überwiegend positiv, zumal die Veröffentlichung zu einer Zeit kam, da überall über ein Ende des Krieges diskutiert wurde. Abdullah Öcalan war kurz zuvor gefangen genommen worden, nie zuvor war in der Türkei so offen und kritisch über eine politische Lösung debattiert worden.
Deshalb erscheint der gestern begonnene Prozess gegen Nadire Mater und ihren Verleger Semih Sökmen auch wie ein Relikt aus vergangener Zeit. Doch die Justiz lässt sich vom Zeitgeist nicht so leicht beirren, erst recht nicht, wenn der Generalstab der allmächtigen Armee auf Genugtuung drängt. Hizim Özkök, stellvertretender Stabschef, hat in einer Stellungnahme an das Bezirksgericht von Beyoglu die Beschwerde der Militärs vorgetragen, die die Staatsanwaltschaft dann fast wortgleich als ihre Anklage vorlegte. „Beleidigung des Militärs“ lautet der Vorwurf und wird mit einem bis sechs Jahren Gefängnis geahndet. Bei dem gestrigen Prozessauftakt wurde die Anklage verlesen, und Nadire Mater erhielt die Gelegenheit zu einer Stellungnahme.
Sie könne nicht verstehen“, sagte Frau Mater, „wie Aussagen von Soldaten als Beleidigung des Militärs gewertet werden könnten. Da müsste die Armee sich ja selbst anklagen.“ Nachdem sie und ihr Verleger das Gericht davon überzeugen konnten, dass eine ausführliche Erörterung der Anklagepunkte notwendig ist, wurde die Verhandlung auf den 26. November vertagt. „Der Ausgang des Verfahrens ist völlig offen“, meinte Mater anschließend.
Der Prozess gegen die 50jährige Journalistin ist ein schwerer Schlag für die türkische Regierung, die versucht, endlich zu einem besseren Image in Menschenrechtsfragen zu kommen. Nadire Mater gehört seit zwei Jahrzehnten zu den Intellektuellen des Landes, die sich publizistisch mit großem persönlichem Engagement immer wieder in Sachen Demokratie und Menschenrechte stark gemacht hat. Sie hat lange in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet und verdient ihr Geld jetzt als Korrespondentin der Dritte-Welt-Agentur IPS. Außerdem ist sie die türkische Repräsentantin der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ . Sie ist Mitarbeiterin im Menschenrechtsverein und kennt den Repressionsapparat aus Erfahrung.
Gerade um Leute wie Nadire Mater geht es, wenn von Demokratisierung in der Türkei die Rede ist. Doch obwohl auch aus den Reihen der derzeitigen Regierungsparteien immer wieder gefordert worden war, die Strafgesetze, die die freie Meinugsäußerung einschränken, abzuschaffen, raffte die Regierung sich lediglich zu einer Teilamnestie auf.
32 Journalisten und Autoren, unter ihnen Ismail Besikci, der bekannteste Kurdologe des Landes, wurden mit der Auflage frei gelassen, drei Jahre lang nicht wieder etwas zu behaupten, wofür sie zuvor verurteilt worden waren. Ungefähr dieselbe Anzahl Publizisten blieb im Knast. Erst vor wenigen Tagen wurde der bekannteste Menschenrechtler, Akin Birdal, vorzeitig aus der Haft entlassen, weil Ministerpräsident Ecevit, der seit Montag durch die USA tourt auf eine positive Entwicklung verweisen können wollte.
Doch das türkische Establishment steht sich bei den Imagekorrekturen immer wieder selbst im Weg. Zwei Tage, bevor Anfang November in Istanbul der OSZE-Gipfel, zu dem fast alle wichtigen westlichen Staatschefs anreisen, beginnt, will die Staatsanwaltschaft Andrew Finkel vor Gericht zerren. Der bekannteste ausländische Journalist in der Türkei, der unter anderem für CNN arbeitet, soll in Propaganda für die PKK betrieben haben. Jürgen Gottschlich, Istanbul
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