: Geld gibts nur am Bahnhof
Über Freunde und Liebe, Drogen und Prostitution: Straßenkinder in Hamburg ■ Von Peter Brandhorst
Michi, der 18-Jährige, erzählt seinen
Traum: Nur einen Tag lang „mal so richtig leben“ und geniessen, was er sonst nicht kennt. Morgens den gedeckten Frühstückstisch, später Schwimmen im See, vielleicht sogar Shoppen in der Stadt. Und abends, sagt Michi, „abends würd ich mit Frau griechisch essen gehen. Oder indisch – soll auch ganz gut sein“. Wolle, sein 16-jähriger Freund, wird langsam leicht hibbelig, weil er gleich „Stamm machen“ muss – einen Stammfreier bedienen. Woher denn das Geld nehmen, um diese Wünsche zu verwirklichen, will er bloss noch schnell wissen. Und kennt die Antwort doch längst schon selbst: „Geld gibts nur am Bahnhof.“
Der Bahnhof, sagt Michi später, „ist praktisch wie ein Arbeitstag“. Und Wolle, der kleine Junge, fügt noch hinzu: „Alltag und Stress. Ich schätze, ich werd hier kaum mehr wegkommen.“ Zwei Strassenkinder vom Hamburger Hauptbahnhof. Zwei auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, ohne Ziel und mit viel Hoffnung, die schon vor langem ihr Zuhause verlassen haben und angekommen sind zwischen Wandelhalle und Bahnhofs-Vorplatz. Und manchmal auch am Hansaplatz, dem Rotlicht-Viertel gleich hinter der anderen Strassenseite.
Straßenkinder in Deutschland sind
nicht vergleichbar mit denen in lateinamerikanischen Ländern. Doch die Bedingungen, welche Karrieren auf der Strasse fördern, sagt Edeltraud Engel vom Hamburger Diakonischen Werk, sind „fast überall gleich“. Zunächst die materielle Verarmung in den Familien, bald darauf auch eine emotionale Leere bei den Kindern. Im September hatte die Diakonie ExpertInnen aus Nicaragua und St. Petersburg erstmals zu einem zweiwöchigen Austausch mit Hamburger Fachleuten geladen. Ihre Gäste, fasst Edeltraud Engel zusammen, seien „komplett überrascht“ gewesen, dass „auch bei uns so viele junge Menschen abrutschen können“.
Es sind Jugendliche vor allem, Mädchen wie Jungen, die den Weg zum Bahnhof suchen. Mühselig ist der, oft schon über viele Jahre, und manch einem erscheint die Ankunft zunächst wie Befreiung. „Richtig schlimm“ sei die letzte Zeit bei ihren bereits älteren Pflegeeltern gewesen, sagt Anja, die „schon 16“-Jährige. Hilflos und nur mit Verboten reagierten die, als Anja – voller Zweifel und Fragen – zu pubertieren begann. Mit 14 ging sie das erste Mal fort, mittlerweile hat sie einen Platz in einer staatlichen Jugendwohnung zugewiesen bekommen. Von ihrer leiblichen Mutter durfte sie auch in dieser Phase ihres Lebens keine Unterstützung erwarten, „obwohl ich sie doch so sehr lieb hab“. Mit 16 war diese selbst noch Kind, als Anja zur Welt kam. Und ist bis heute überfordert geblieben mit der Alleinerziehung von mittlerweile fünf Kindern.
Seit drei Monaten zieht es Anja immer wieder zum Bahnhof. „Eigentlich“, glaubt sie, inmitten all der anderen auf einer Mauer sitzend und mit einem grossen Jungen im Arm, „fühlen wir uns hier wie zu Hause“. Vor ein paar Wochen hat sie sich hier auch noch ganz schwer verliebt.
Bundesweit bis zu siebentausend
Jugendliche und Kinder unter 18 suchen ihren Lebensmittelpunkt auf der Strasse, heisst es beim Deutschen Kinderschutzbund. Strassenkinder seien „sehr stark ein Großstadtthema“, sagt Thomas Möbius vom Institut für soziale Praxis (ISP) am Hamburger Rauhen Haus, einer Einrichtung des Diakonischen Werks. Drei Jahre lang, bis September 1998, hat das ISP in Hamburg – parallel zu gleichen Projekten in Karlsruhe, Dresden und dem Ruhrgebiet – eine Art Bestandsaufnahme vorgenommen. Wer sich zum Bahnhof begibt, weiss Möbius, dem ist zuvor „bereits eine Menge passiert“. Lauter kleine Seelen, die sich dort treffen, mit schon in jungen Jahren oft vielfach gebrochenen Biografien.
Er habe „einfach nur mit dem Leben klar kommen“ wollen, umreisst Wolle, der 16-Jährige, seine Erinnerungen an frühere Kindheits-Jahre in einer Hamburger Hochhaussiedlung. Seine Eltern, überfordert mit der Erziehung der sieben Kinder, waren kaum für ihn da. „Ich wollte Hilfe, und die haben sie mir nicht gegeben.“ Auch in der Schule wusste niemand wirklich, wie auf ihn eingehen, wenn er Lehrer mit Stühlen bewarf oder mit Messern bedrohte.
„Ich war nicht mehr zu halten“,
sagt Wolle, und so hat man ihn bald rotieren lassen zwischen Grund- und Sonderschulen, hat Erziehungs-Konferenzen einberufen und Termine beim Psychologen arrangiert. Geholfen hat ihm nichts von all dem. Auch nicht, dass ihn das Jugendamt schließlich, mit knapp 13, aus der elterlichen Wohnung herausgeholt und später in einer Jugendwohnung untergebracht hat. Kurze Zeit darauf ging Wolle das erste Mal anschaffen am Bahnhof.
Strassenkinder in Hamburg sind vor allem Hamburger Kinder. Wer nicht direkt aus den Stadtteilen kommt, oft aus den sozial schwachen, um Zuflucht zu suchen, hat bereits Stationen einer Jugendhilfe-Karriere hinter sich, ist beispielsweise untergebracht in Wohngruppen staatlicher Fürsorge-Einrichtungen. Heimatlose Kids fast alle, nie wirklich verwurzelt gewesen in den Vierteln, aus denen sie stammen, und ohne Gefühl für ein Zuhause, das sie kaum mehr kennen. Der Bahnhof ist Faszination für sie und Abenteuer gleichermaßen, ihr Ort der Begegnung. Und stillt so ein klein wenig den Hunger nach emotionaler Wärme.
Wer zuvor nur die Erfahrung kannte, fortwährend zu scheitern, erlebt jetzt manchmal sogar auch Zuneigung. Michi, sagt Wolle über seinen 18-jährigen Freund, „ist der einzige, zu dem ich Vertrauen habe und mit dem ich mal in Ruhe reden kann“. Selbst an seinen Geburtstagen hat sich früher sein Vater nicht für ihn interessiert, „keinen Anruf, keine zwanzig Pfennig hatte der für mich übrig“.
Etwa 270 Minderjährige wurden 1998
am Hamburger Hauptbahnhof von MitarbeiterInnen des „Kids“ gezählt, einer niedrigschwelligen Anlaufstelle für Strassenkinder. Schräg gegenüber dem Wandelhallen-Ausgang hält das „Kids“ in eigenen Räumen soziale und medizinische Betreuung für Bahnhofskinder bereit. Der Trägerverein, das „Basis-Projekt“, bietet jungen Strichern in der Nachbarschaft zudem eine Anlaufstelle sowie eine Übernachtungsstätte an. Bis zu 90 der 270 Mädchen und Jungen halten sich regelmäßig und zeitgleich am Bahnhof auf. Viele bleiben dort nur für zwei oder drei Monate und versuchen recht bald, zurückzugehen in ihre Viertel. „Für die war das dann nur eine Durchgangsstation in ihrem Leben“, sagt Ulrich Hermannes von der Bahnhofsmission. Andere pendeln längere Zeit, manchmal sehr unentschieden, zwischen Wohnort und Wandelhalle. Man beobachte insgesamt „einen permanenten Austausch“ der Szene, berichtet „Kids“-Mitarbeiter Hans-Josef Lembeck, in jüngster Zeit auch einen überproportionalen Anstieg unter den Mädchen. Für etwa ein Drittel gilt: Aus Jugendlichen werden am Bahnhof Erwachsene.
So wie für Michi, der mit 15
nach andauerndem Streit mit seiner Mutter die gemeinsame Wohnung verliess und seither weiß, „dass ich mich nur auf mich selbst verlassen kann“. Tagsüber leben sie den Stress auf der Strasse und suchen sich später, zur Nacht, eine stille Ecke. Manche fahren zurück in ihre Jugendwohnungen, andere zu den Eltern. Michi teilt seine Ein-Zimmer-Wohnung, irgendwo in einer Hochhaus-Siedlung draussen in der Stadt, seit kurzem mit drei Freunden. Unter freiem Himmel auch noch schlafen will kaum jemand.
Es gibt Anlaufstellen für jene
Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die sich am Bahnhof auch noch prostituieren. Und wer muss, kann zudem Unterschlupf finden in der staatlichen Einrichtung des „Kinder- und Jugendnotdienstes“. Der weitaus größere Teil der jährlich rund eintausend Aufnahmen müsse als direktes Krisenmanagment innerfamiliärer Konflikte gesehen werden, sagt Leiterin Renate Hansen. Einige andere kommen vom Bahnhof, und in gut 300 Fällen habe man voriges Jahr auswärtigen, in Hamburg aufgegriffenen Jugendlichen ein Bett bereit gestellt.
„Wer haut schon ab von zu Hause, wenn es ihm gut geht?“, umschreibt Renate Hansen deren aller Befindlichkeit. Kinder leiden unter fehlender Anerkennung in der Familie wie unter Beziehungsabbrüchen zu den Eltern. Viele erfahren zusätzliches Leid durch körperlichen und auch sexuellen Missbrauch. Jedes vierte Kind in Hamburg unter zwölf Jahren sei bereits Opfer von „gravierenden Formen elterlicher Gewalt“ geworden, heißt es beim Hamburger Kinderschutzbund, unter den Neuntklässlern 1997 gar fast 43 Prozent.
Sie habe, sagt Babsi,
die 17-jährige, ganz leise, „viele Erfahrungen gemacht mit ihm“, bevor der Vater sie und ihre Mutter endlich verließ. Da war Babsi elf, mit zwölf ging sie auf die Strasse.
Die meisten der Kids suchen Halt in Träumen. „Börsenmakler“, denkt Michi laut, „das wär was“, und erzählt von seinem letzten Job, ganz billiger Tagelöhner auf einem Jahrmarkt-Dancer. Den Alltag, hat Wolle schon lange verstanden, „den halten wir manchmal nicht so gut aus“. Drogen helfen beiden, ihr Stricher-Leben ein wenig erträglicher zu gestalten. Drei Mal schon in seinem jungen Leben hat sich Michi selbst vom Heroin entzogen, „weil ich inzwischen weiß, dass ich damit eigentlich nicht umgehen kann“. Und so hofft er, jetzt endlich auch sauber zu bleiben.
Geld ranholen am Bahnhof müssen beide weiterhin, für Haschisch und LSD – „man kann damit so schön seine Träume erleben“. Ob LSD-Tropfen oder Ecstasy-Pillen: Das sei, erzählt Rolf, ein 17-Jähriger, ein „Stoff, der mich glücklich macht“. Dann fühle er sich „immer ganz liebesbedürftig“. Drogen sind für viele ganz gewöhnlich in ihrem Alltag am Bahnhof, ebenso auch die Erfahrungen mit der Gewalt. „Einer zockt den anderen ab“, beschreibt Rolf seine Erlebnisse. „Man muss sich durchsetzen, nicht unterkriegen lassen“, entgegnet Berti, auch 17. Jeder kämpfe nur ums eigene Überleben, wer verliert, „ja, der greift vielleicht irgendwann verzweifelt zu Shore“, wie sie Heroin nennen.
Anja, die verliebte 16-Jährige,
hält ihren Freund jetzt noch fester im Arm. „Ihr haut euch immer gleich und redet nicht erstmal, weil: Ihr kennt das nicht anders“, sagt sie schließlich zu den Jungs in die Runde. Und dann, zu ihrem Freund: „Einigen wünsche ich, dass sie merken: Der Bahnhof bringt nichts“.
Michi hofft derweil, wenn er irgendwann bloß weg käme von dort, dann sei das Leben endlich gemeistert. Von einem Alltag ganz weit draußen träumt er, von Arbeit zum Überleben und jeden Tag mit Frau und Kindern im kleinen Häuschen: „Ich war schon so oft allein.“ Und Wolle, sein Freund, versucht einen Moment lang, Mut zu machen: „Das Schlimmste haben wir ja hinter uns.“
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