: Bröckelnde Kulissen, zerfranste Territorien
In ihrem Debüt „Die Schattenboxerin“ fängt Inka Parei schon mal an, den Stadtroman neu zu erfinden ■ Von Kolja Mensing
Dunkel bekommt keinen Besuch und pflegt die kleinen Rituale der Einsamkeit. Zum Beispiel stellt sie ihre Schuhe immer ordentlich links neben die Fußmatte, rechts daneben, genauso ordentlich, den Ascheimer, und abends zwischen acht und neun schließt sie mit einem lauten Geräusch die Tür, um die Nacht auszusperren.
Dunkel, das ist die Frau mit dem traurigen Namen. Ihr gegenüber wohnt Hell. Hell hat einen freundlichen Namen, aber auch ihr geht es nicht besonders gut. Auch sie stellt ihre Schuhe immer ordentlich neben die Fußmatte, allerdings auf die linke Seite, und auch sie kennt all die kleinen Spiele, mit denen man die Nacht und die Einsamkeit zu vertreiben versucht. Hell und Dunkel, sie heißen wirklich so, sind die letzten beiden Mieterinnen, die noch in dem heruntergekommenen Wohnhaus leben. Die beiden jungen Frauen kennen sich nur vom Sehen, doch dann ist Dunkel verschwunden, und Hell, die sich eine ganze Zeit lang ganz gut gehalten hatte, ist mir ihrer Einsamkeit plötzlich allein. Mitten im Winter, mitten in Berlin: „Dass sie einfach weg ist“, stellt Hell fest, „bringt mich aus dem Gleichgewicht.“
Hell macht sich auf die Suche: Inka Pareis Roman „Die Schattenboxerin“ ist trotz der depressiven Grundstimmung erst einmal eine Detektivgeschichte. Und zwar eine ziemlich elegante, nach der Art Paul Austers: Aus der – vielleicht ein bisschen schematischen – Anfangssituation heraus entwickeln sich drei, vier Geschichten, die alle wie zufällig miteinander verbunden sind. In Dunkels leerer Wohnung wird Feuer gelegt, ein Mann taucht auf, der Dunkel kurz vor ihrem Verschwinden noch getroffen hat, vielleicht kennt er sie aber auch schon länger, auf jeden Fall verliebt Hell sich in ihn und merkt dann, dass auch sie mehr mit diesem Mann verbindet als nur ein Zufall. Hell landet mit ihrer Recherche dort, wo sie eigentlich nie wieder hinwollte: bei sich selbst, bei ihrer Vergangenheit und einem ziemlich schrecklichen Erlebnis im Frühjahr des Jahres 1989. Inka Parei hat ihren Debütroman „Die Schattenboxerin“ sehr geschickt aus kleinen Einzelteilen zusammengesetzt. Hell sieht sich zunächst in Dunkels Wohnung um, scannt mit ihrem Kameraauge die Unordnung: „Bücher, ein Tablett mit Teetassen, Tuben und Flaschen, zerknickte Pfefferminzbonbonschachteln, Batterien, ein Walkman, Kassetten.“ Genauso sorgfältig tastet sie sich dann in der Zeit zurück, an einen Frühlingstag im Jahr 1989, später wird eine filmreife Actionszene mit allerlei grausamen Details eingeschnitten, und ganz zum Schluss, irgendwo in einem Park in Treptow, verdichten sich die ganzen Motive des Romans in ein paar Gesprächsfetzen. Man wundert sich, wie alles zusammenpasst, nur verraten darf man davon nicht zu viel: „Die Schattenboxerin“ ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Autoren und Autorinnen der so genannten jungen deutschen Literatur richtig gut und spannend schreiben können.
Eigentlich sollte man Inka Parei also einfach nur zum Lesen empfehlen und nicht noch einmal die Judith-Hermann-und-alles-was-danach-kam-Schublade aufmachen. Trotzdem muss man wohl kurz über die Stadt sprechen, in der die junge deutsche Literatur geschrieben wird – und über die sie schreibt. Also Berlin. Das kaputte Mietshaus („Außenklo“) von Hell und Dunkel hat Gründerzeittüren und steht am nördlichen Rand von Berlin-Mitte. Straßenbahnen („ungarische Produktion“) rattern durch die Straßen, es ist alles schön ostig, und dann kommt auch noch das Jahr 1989 vor (Mauerfall und so): Die Welt hat „Die Schattenboxerin“ daraufhin umgehend zum „Hauptstadtroman“ erklärt, als hätte man sich mit dem Genre des „Berlinromans“ nicht schon genug aufgeladen.
Aber das Interessanteste an Inka Pareis Roman ist gerade der Blick in die Zeit, als Berlin alles war, nur nicht Hauptstadt: Hell läuft 1989, am Tag der 1.-Mai-Demonstration, durch Kreuzberg und das nördliche Neukölln, und irgendwie sieht es da genau so aus wie in den bröckelnden Ostberliner Kulissen, die etwas später als wahrer Ort der Melancholie entdeckt wurden: „Der Sand weht von den Bahnhofsresten herüber, einer verwahrlosten, mit Gleispaaren durchsetzten Freifläche. Gekappt durch die Mauer hat der Schienenstrang seit Jahrzehnten seinen Sinn verloren, befindet sich im Rückfall zu Wüste und Steppe“, man sieht „kellerartig beleuchtete Szenekneipen“, „schmutzige Spiel- und Waschsalons“, und am Tag nach der Demonstration ist die Verfallskulisse perfekt, mit den „Resten schwelender Mülltonnen, gefüllt mit Spiritus, Bauholz und alten Reifen“.
Die Bilder verwischen. Die 32-jährige Inka Parei schreibt nicht über Berlin formerly known as geteilte Stadt. Sie malt ein romantisch verdüstertes Kunststadtgemälde, in dem das Jahr 1989 nicht mehr das „historische Jahr“ des kollektiven Gedächtnisses ist, sondern ein individuelles Datum. „Ich selbst befinde mich im Zentrum“, denkt Hell, als sie einen Stadtplan vor sich ausbreitet, „ungefähr zwischen N12 und T7, und dieses Zentrum löst sich langsam auf. Am Tiergarten, abgegriffen vom vielen Blättern, kleben Krümel einstigen Grüns. Siegessäule und Brandenburger Tor sind völlig in Knickfurchen verschwunden.“ Eigentlich kann man auf diesem Stadtplan keine Romane mehr erleben, und es ist kein Wunder, dass es Hell und die anderen Figuren in der „Schattenboxerin“ immer wieder an die „wenig benutzten, noch druckfrischen äußeren Ränder“ dieses literarisch verkrümelten, zerknickten und zerfransten Territoriums zieht: nach Treptow, Schöneweide oder Lübars.
Der Berlinroman der 90er Jahre, so könnte man die Metapher auch lesen, ist an einem Endpunkt angekommen. Wenn man weiterhin unbedingt über diese Stadt schreiben will, muss man sie neu erfinden, von den Rändern her. Inka Parei, das ist schön, hat damit schon mal angefangen.
Inka Parei: „Die Schattenboxerin“. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 1999. 182 Seiten, 34 DM
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