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Wanderkarten für die postnationale Welt

In „Kluge Macht“ versucht der Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel die Chancen für nicht gewalttätige Konfliktlösungen in einer Welt zu erkunden, in der die Bedeutung der Staaten schwindet  ■   Von Dieter Senghaas

Demokratie nach innen, föderale Vernetzung nach außen – auch Czempiels Rezept für die Vermeidung von Kriegen stammt von Kant

Als vor zehn Jahren der Ost-West-Konflikt zu Ende ging und ein weltpolitischer Umbruch zu diagnostizieren war, wurde es Mode, von „neuer Unübersichtlichkeit“ zu sprechen. Der Begriff ging auf den Titel eines Buches von Jürgen Habermas zurück. Gemeint war dort freilich der postmoderne Diskurs, nicht das Ergebnis einer weltpolitischen Lagebeurteilung.

Wer das neue Buch von Ernst-Otto Czempiel zur Hand nimmt, kann sicher sein, dass er nicht mit der fragwürdigen Kategorie der Unübersichtlichkeit konfrontiert wird, sondern mit Durchblicken zur weltpolitischen Lage, die er schon zu Beginn des Jahrzehnts in „Weltpolitik im Umbruch“ (1992) auf ihre Begriffe zu bringen versuchte.

Wie alle neueren Bücher von Czempiel hat auch dieses mit Wirklichkeiten und mit Begriffen zu tun. Das Mischungsverhältnis von beiden ist oft unterschiedlich – in dem vorliegenden Buch ist es besonders gelungen. Denn zum einen setzt sich Czempiel mit den neuen Realitäten in der Welt auseinander, insofern sie Entwicklung von (Außen-)Politik bestimmen. Auf der anderen Seite stellt er beharrlich die Frage, ob die unser Handeln bestimmenden Grundbegriffe wirklich auf der Höhe der Zeit sind. So rückt hier die überkommene Fixierung auf die Welt der Staaten ins Zentrum. Nicht, dass Cziempiel deren Realität übersieht: Unbezweifelbar hatte die „Staatenwelt“ die Rahmenbedingungen für die Politik der vergangenen Jahrhunderte gesetzt. Ludwig XIV. konnte, im Großen und Ganzen zu Recht, sagen: „L'état c'est moi.“ Und obgleich es schon anachronistisch klang, konnte 250 Jahre später de Gaulle noch im Hinblick auf die nuklearstrategische force de frappe sagen: „La dissuasion (Abschreckung, A. d. Red.) c'est moi.“

Liest man Czempiel, so gewinnt man den Eindruck, dass wir immer noch – und wahrscheinlich mehr, als uns bewusst ist – von dieser monarchisch-etatistischen, elitär abgehobenen, überdies militärbestimmten und kriegsgeneigten Weltsicht geprägt sind. Sie konfrontiert er mit neuen Wirklichkeiten, die eine neue Begrifflichkeit erforderlich machen: Die „Wirtschaftswelt“ und die „Gesellschaftswelt“ sind neue treibende Kräfte nicht nur innerhalb einzelner Gesellschaften, sondern über die Gesellschaften hinweg. Alte, sich erweiternde weltweite Interdependenzen und neue Verflechtungen vermittels rapide sich verbreitender Informations- und Kommunikationstechnologien schaffen Vernetzungen, die die Bedeutung der Staatenwelt relativieren. Multis und Nichtregierungsorganisationen als die höchst verschiedenartigen Vertreter von Wirtschaft und Gesellschaft werden neben den Vertretern des Staates zu den Akteuren von Außenpolitik und internationaler Politik. Nachdem der klassische Nationalstaat in den vergangenen Jahrhunderten seine Stärke und Durchschlagskraft durch Prozesse der Eingrenzung errungen hatte, unterliegt er nunmehr, gewollt oder nicht, einem Prozess der Entgrenzung oder „Denationalisierung“. Seine Grenzen werden poröser; vielfach haben sie, etwa in der EU, kaum noch eine Bedeutung. Und auf die Außenpolitik wirken Kräfte ein, die ihrem eigenen Primat, also einem Primat der Innenpolitik folgen und nicht im geringsten daran denken, sich einem etatistisch definierten Primat der Außenpolitik zu fügen.

So entsteht eine Gemengelage, die es ratsam erscheinen lässt, im Hinblick auf die Außenbeziehungen von hochentwickelten Gesellschaften nicht mehr von „Außenpolitik“ zu sprechen, sondern von „internationalisierender Politik“. Ihr Hintergrund sind Gesellschaften mit Menschen, die gebildet, mobil und gut informiert sind, die sich überdies in zunehmendem Maße auch über die eigenen Landesgrenzen hinweg vernetzen, ja die möglicherweise kosmopolitisch orientiert sind.

In solchem Umfeld wird das politische Geschäft schwieriger, weil höchst disparate Ideen und Interessen, Lobbies und Veto-Gruppen eine einfache Definition des „nationalen Interesses“ nicht mehr erlauben. Czempiels Frage lautet nun: Wie ist es unter diesen neunen Bedingungen möglich, Gewalt zu verhindern und Frieden zu ermöglichen? „Kluge Macht“ vermittelt dazu klare Perspektiven. Die Ursachen von Gewalt sieht der Autor in der anarchischen Machtverteilung des internationalen Systems, in den Herrschaftssystemen der Staaten, im Verhalten von Interessengruppen, in der Komplexität der Interaktionen, in der er eine eigenständige Gewaltursache erkennt, sowie in der Inkompetenz der Akteure. Einige dieser Gewaltursachen sind strukturell bedingt, andere prozessual.

Die strukturellen Rahmenbedingungen für Frieden erkennt Czempiel vor allem in der Herausbildung der internationalen Organisation als einer Struktur, die es erlaubt, die Staatenanarchie zu überwinden. Noch bedeutender ist jedoch die demokratische Herrschaftsform, weil sie die Wahrscheinlichkeit einer kriegsabgeneigten Außenpolitik erhöht.

Leicht erkennbar: Czempiel ist in beider Hinsicht Kantianer, denn schon Kant (wie viele vor und nach ihm, an die man sich nicht mehr erinnert) plädierte für die republikanische Verfasstheit von Gesellschaften und die föderalistische Vernetzung dieser als institutionelle Medien der Friedensstiftung.

Natürlich weiß Czempiel, dass die Welt der hochindustrialisierten Gesellschaften nicht repräsentativ für die gesamte Welt ist. Obgleich das Buch vor allem die hochindustrialisierten Gesellschaften, also die OECD-Welt, im Blick hat, betont es die nötigen Differenzierungen, wenn man nur die nördliche Halbkugel der Welt analysiert und Handlungsempfehlungen ableitet. Gleichwohl ist die transatlantische Welt für Czempiel paradigmatisch. Dort erkennt er erhebliche sicherheitspolitische Defizite. Vor allem gilt es zu verhindern, dass zwischen der EU und der östlichen Hälfte Europas, vor allem Russland, neue riskante Klüfte entstehen. Im weitergehenden Bereich von San Francisco bis Wladiwostok, also der Welt der OSZE-Staaten, muss weit mehr Kooperation inszeniert werden als bisher.

Kluge Politik weiß um die Gewaltursachen, und sie kennt die konstruktiven Leitperspektiven. Czempiel begreift sein Buch als Wanderkarte. Diese Karte enthält manngifache differenzierte Angaben, in welchem Umfeld man wie mit Aussicht auf Erfolg zum friedenspolitischen Ziel gelangt.

Czempiel plädiert für kluge Politik. Und weil Politik ohne Macht nicht denkbar ist, ist sein Buch ein Plädoyer für jene Titel gebende „Kluge Macht“. Dieses Buch kombiniert verständlich vorgetragene theoretische Überlegungen mit einer geradezu pointilistisch anmutenden Verliebtheit ins empirische Detail. Am Ende der Lektüre wird der Leser nicht nur wissender, sondern auch klüger sein. Ernst-Otto Czempiel: „Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert“, München 1999, C.H. Beck Verlag, 274 Seiten, 48 DM

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