: 32 Meter Bremsweg war zu lang
■ Tragischer Unfall in Tempo 30-Beschränkung beschäftigt Amtsgericht. 11-jähriger Junge auf Rad angefahren
Wenn ein Autofahrer durch eine Tempo 30-Zone mit 80 Stundenkilometern brettert, ist er rücksichtslos und kriminell. Doch wenn ein Autofahrer mit 79 km/h auf einer belebten Landstraße fährt, wo sonst nur ein Schild „Tempo 60 bei Glätte“ den Verkehr ein wenig bremst, und ihm dann ein Kind vor den Wagen läuft, trifft ihn dann die Alleinschuld? Mit dieser schwierigen verkehrsrechtlichen Frage muss sich seit gestern Amtsrichter Holger Randel befassen.
Jan Peer J. (33) ist der „fahrlässigen Körperverletzung“ angeklagt. Er hatte am 25. März gegen 19.45 Uhr die Glashütter Landstraße mit 79 km/h befahren, obwohl nur Tempo 3O erlaubt waren, und dabei den 11-jährigen Daniel angefahren.
„Ich habe mich in der Kolonne im Sicherheitsabstand bewegt“, schildert der Angeklagte dem Gericht. Er sei davon ausgegangen, dass er um die 60 Stundenkilometer gefahren sei. Dass auf der Glashütter Landstraße damals kurzfristig ein „Tempo 30“-Limit wegen Straßenschäden eingerichtet worden war, habe er nicht bemerkt.
Plötzlich habe er gesehen, wie der Gegenverkehr „abrupt ab-bremste“, doch „da war es schon passiert“, berichtet J. „Der Junge auf dem Fahrrad kam aus dem Gegenverkehr geschossen, ich hab sofort eine Vollbremsung gemacht.“ Den Unfall verhinderte diese nicht. Daniel prallte über den Kotflügel auf die Motorhaube und blieb leblos auf der Fahrbahn liegen.
Der 11-Jährige erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen und diverse Brüche. „Er lag drei Tage im Koma auf der Intensivstation und verbrachte über drei Wochen im Krankenhaus“, berichtet Mutter Kerstin. Daniel selbst kann sich an nichts erinnern: „Wir waren auf dem Müllberg, und dann bin ich im Krankenhaus aufgewacht.“
Sein Freund Marlon (10) sieht dagegen alles noch vor sich: „Wir haben nach links und rechts geguckt, ich hab noch nach Daniel gerufen, da war er losgefahren.“ Er selber hatte die Straße wegen des Verkehrs nicht überqueren wollen. Und auch J.'s. Beifahrer Michael L. erklärt, dass Daniel völlig überraschend im Dunkel als „Silhouette“ aus dem Gegenverkehr aufgetaucht sei: „Ich hätte nicht besser reagieren können.“
Dennoch muss Jan-Peer J. auf jeden Fall mit einer Verurteilung rechnen, da nur Tempo 30 erlaubt war, wenngleich nicht zum Schutz von Kindern, sondern wegen Straßenschäden. Denn bei Tempo 30 wäre es nie zum Unfall gekommen. Und selbst bei 62 km/h, so der Sachverständige, hätte J. seinen Wagen noch vor Daniel zum Stehen bekommen. Aber 32 Meter Bremsspur bei 79 km/h war zu lang. Kai von Appen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen