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Die Atomindustrie muss ihr Gesicht wahren können“

■ Politikprofessor Jänicke hält es für möglich, dass die Konzerne freiwillig AKWs stilllegen. Kurze Ausstiegsfristen „werden rechtlich scheitern“

taz: Die grünen Minister Jürgen Trittin und Joschka Fischer arbeiten auf einen Kompromiss für den Ausstieg aus der Atomwirtschaft hin. Die ältesten Reaktoren sollen spätestens nach einer Laufzeit von 30 Jahren und einer nachfolgenden Übergangsfrist von drei weiteren Jahren abgeschaltet werden. Dauert das nicht ein bisschen lang?

Martin Jänicke: Alles andere wird rechtlich scheitern – jedenfalls, wenn keine Entschädigungen gezahlt werden sollen. Zwar gibt es inzwischen mehrere europäische Länder, die die Laufzeiten ihrer Atomkraftwerke begrenzt haben. Aber in Belgien und der Schweiz sind das beispielsweise 40 Jahre. 30 Jahre plus Übergangsfrist wären also eine vergleichsweise kurze Zeit. Wenn man noch in dieser Legislaturperiode Anlagen stilllegen will, wird man das nur im Konsens mit der Atomindustrie hinkriegen. Die Regierung ist auf die Akzeptanz der Betreiber angewiesen, sonst klappt das nicht. Wir stehen vor folgender Alternative: Entweder man schreibt kürzere Laufzeiten ins Ausstiegsgesetz und handelt sich dann langwierige Prozesse ein. Dann passiert in dieser Regierungsperiode gar nichts mehr. Oder man formuliert eine großzügigere Lösung, wodurch die Energieversorger Spielraum für eigenes Handeln bekommen.

Mit einem großzügigen Ausstiegsgesetz gibt die Regierung ihre Möglichkeit aus der Hand, der Industrie zu drohen und auf einen akzeptablen Konsens hinzuwirken.

Bis vor kurzem hieß es aus der Wirtschaft, dass unter 35 Kalenderjahren gar nichts läuft. Das scheint sich zu ändern. Außerdem gibt es Signale, dass die Industrie von sich aus noch in dieser Legislaturperiode ein oder mehrere Anlagen zur Abschaltung anmelden könnte. Schließlich hat die deutsche Stromwirtschaft gewaltige Überkapazitäten, die im liberalisierten Strommarkt ein nachteiliger Kostenfaktor sind. Es gibt auch Nachrüstungserfordernisse für einzelne Anlagen. Im Zweifel muss die andere Seite aber ihr Gesicht wahren können. Im Übrigen ist das Drohpotenzial der Regierung bei Steuern auf Kernbrennstoffe oder Nachrüstungsanforderungen noch nicht ausgeschöpft.

Sie haben die Hoffnung, dass die Industrie freiwillig aussteigt?

Darauf muss man hinarbeiten. Ich halte das für erreichbar. Alles andere wird nicht funktionieren. Und wenn nur eine Anlage stillgelegt wird, hat das bereits einen internationalen Signaleffekt.

Dem Bundesumweltministerium liegt ein Gutachten des Frankfurter Rechtsprofessors Erhard Denninger vor, der eine Ausstiegsfrist von 25 bis 26 Jahren plus einer ein- bis dreijährigen Übergangszeit für verfassungsrechtlich möglich hält.

Solche Rechtspositionen existieren natürlich, aber die Mehrheitsauffassung sieht doch wohl anders aus. Da ist eher von fünf Jahren Übergangsfrist die Rede. Und was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt, das ja im Konfliktfall mit Sicherheit angerufen wird, sollte man mit realistischer Skepsis sehen. Der Einstieg in den Ausstieg aus der Atomenergie ist – besonders wegen der Unmöglichkeit einer sicheren Endlagerung über geologische Zeiträume – ein hoch legitimes Ziel. Aber dies erfordert neben der Entschlossenheit auch Intelligenz und Flexibilität. Eine juristische Niederlage wäre – auch als Negativsignal in Europa – sicherlich ein Rückfall hinter den Status quo. Interview: Hannes Koch

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