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Integration beginnt mit vielen, vielen Fragen

Eine Grundsatzdebatte über den Islam in Deutschland fordert die CDU/CSU-Fraktion

Berlin (taz) – Ist Europa eine christliche Wertegemeinschaft? Was Helmut Kohl noch vor zwei Jahren mit einem eindeutigen Ja beantwortete, gilt für den Vizechef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Rüttgers nicht mehr so eindeutig. Natürlich stehe Deutschland in einer christlich-humanistischen Tradition, aber: „Wir kommen angesichts von drei Millionen Muslimen im Land nicht darum herum, uns die Frage neu zu stellen.“

Rüttgers, der bereits im März als Antwort auf den Streit um die doppelte Staatsbürgerschaft ein umfassendes Integrationspapier vorlegte, forderte gestern in Berlin zu einer Grundsatzdiskussion zum „Islam in Deutschland“ auf: „Ohne Verdächtigungen und Schaum vor dem Mund, aber auch ohne Fragetabus oder falsche Scheu vor dem Ansprechen von Problemen.“ Das Thema sei inzwischen zu wichtig, um es zum Gegenstand sporadisch aufflackernder Mediendebatten zu machen, so Rüttgers weiter. Denn die Frage nach dem Islam in Deutschland sei eine der Kernfragen einer modernen Integrationspolitik.

Um diese endlich in Schwung zu bringen, richtete die Unionsfraktion eine große Anfrage an die Bundesregierung. Der umfangreiche Fragenkatalog offenbart, wie ungeklärt das Verhältnis zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den in der Republik lebenden Muslimen noch immer ist. Es geht der CDU/CSU nicht nur um Reizthemen wie den Muezzinruf, das Schächten oder das Kopftuch. Sondern auch darum, wie sich zum Beispiel die deutsche Friedhofsordnung mit islamischen Bestattungsritualen vereinbaren lässt; wie muslimische Feiertage am Arbeitsplatz oder in der Schule stärker geachtet werden können; wie die seelsorgerische Versorgung in den Krankenhäusern, Altersheimen und der Bundeswehr derzeit und in Zukunft gewährleitet wird. Ein zentraler Punkt der Anfrage widmet sich dem Verhältnis des Islam zum deutschen Staat: Wie können Muslime mit der westlichen Errungenschaft der Säkularisation, der Trennung von Staat und Kirche, umgehen? Wie sieht es mit einem Ansprechpartner für den Staat in Fragen des Religionsunterrichts aus? In welchen Bundesländern findet ein islamischer Religionsunterricht statt?

Die große Anfrage ist Ergebnis einer Anhörung der CDU/CSU-Fraktion vom 15. Juni im Bonner Wasserwerk. Dort trugen Vertreter der großen islamischen Verbände, von Migrantenorganisationen, der Kirchen und wissenschaftlicher Einrichtungen ihre Thesen zum Islam in Deutschland vor.

Die Dokumentation der Anhörung liegt seit heute der Öffentlichkeit vor und soll nach dem Willen Rüttgers’ als Grundlage der Debatte dienen, die, so seine Hoffnung, in die Ausprägung eines deutschen Islam mit eigenständiger Kultur mündet. Eines Islam, der das Grundgesetz wertschätzt und keinen Zweifel etwa an der Gleichbehandlung und Gleichstellung der Frau lässt.

Ziel der Debatte sei, dem Unwissen in der deutschen Bevölkerung entgegenzuwirken: „Es ist erschütternd, was die Leute in Briefen an uns zum Teil über den Islam äußern“, so Rüttgers. Von der Bundesregierung erwartet er, dass sie sich dem großen Thema der Integration zuwendet und ihre Fixierung auf die formellen Fragen der Staatsbürgerschaft aufgibt.

Eberhard Seidel

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