: Im Reich der Plastiktüte
Langer Samstag in der Hamburger City: Endspurt im Handy-Jahr. Weihnachtsmänner, wo man geht und steht, und alle Leute trinken irgendein dunkelrotes Zeug, das dampft ■ Von Peter Ahrens
Überall ist Licht, und es ist warm. Dunkel und kalt ist es nur draußen, aber draußen interessiert an diesem Tag niemanden. Draußen ist nur der möglichst schnell zu überwindende Zwischenraum zwischen Kaufhof und Karstadt, zwischen Brinkmann und Saturn. Es ist langer Samstag, es ist das vierte Adventswochenende, und alle, die da rennen, hetzen, schieben, drängeln und Glühwein trinken – alle die denken nur eines: Nur noch sechs Tage. Großkampftag in der Hamburger City.
Wer vom Hauptbahnhof kommt, wird gleich so empfangen, dass jedeR sofort weiß, worum es heute und in diesen Wochen ausschließlich geht: Empfangen von einem gewaltigen Nikolaus, der die Spitalerstraße bewacht. Der sieht aus, wie die Figuren auf der Kirmes, wenn man durch das Maul eines riesigen Koboldes in die Geisterbahn einfährt und dazu schauriges Gelächter vom Band ertönt. Die Innenstadt ist keine Geisterbahn, im Maul des Nikolaus werden Schmalzkuchen verkauft. Aber er ist wie ein Türhüter, der verkündet: Überschreite diese Schwelle, und du befindest dich in meinem Reich.
Es ist das Reich der Plastiktüten. An den Aufschriften auf den Tüten lassen sich die Spuren der Leute zurückverfolgen: Alsterhaus, Uli Knecht, Wormland, Saturn. Und spätestens dort bleibt man das erste Mal stecken. Die Frau in der Schlange vor den Saturn-Kassen packt die Harburger Nachrichten aus und fängt an zu lesen. Bis sie an der Reihe ist, ist sie durch die gesamte Weltpolitik durch plus Hamburgteil und den Großteil vom Sport. Die Elektroabteilung als Wartezimmer.
Wer keine Zeitung zur Hand hat, muss den Dialogen vor und hinter sich in der Schlange zuhören. Der eine: „End of Days.“ Der andere: „Hä?“ Der eine: „End of Days.“ Der andere: „Und warum sagst du das jetzt?“ Der eine: „Weil das dahinten auf dem Fernseher als Vorschau läuft. Geiler Film. Arnold spielt einen Alkoholiker.“ Der andere: „Brauchst mir nicht die ganze Handlung zu erzählen.“ Der eine: „Habe ich ja gar nicht. Ich hab nur gesagt, dass Arnold einen Alkoholiker spielt.“ Der andere: „Apropos Alkoholiker. Letztens stand hier ein Besoffener vorm Kaufhaus. Der hatte auch nur ein Bein und hat den Leuten vorgeheult, dass er nur ein Bein hat. Hat um Geld gebettelt.“ Der eine: „Nee, echt. Haste was gegeben?“ Der andere: „Bin ich blöd, oder was?“ CD-Brenner und Computerzubehör für 700 Mark gehen über den Ladentisch.
Ein Automat, der sich wahrhaft Smile-O-Mat nennt, fragt im Erdgeschoss des Kaufhauses die Leute: Waren Sie mit dem Einkauf zufrieden, unzufrieden oder sehr zufrieden? Klicken Sie bitte an der entsprechenden Stelle.
Wieviele Weihnachtsmänner auf einmal verträgt eine Stadt? Sechs sitzen im geparkten Audi TT Cabrio vor Karstadt Sport, bei Brinkmann kraxeln sie an den Wänden hoch, im Alsterhaus haben die Plüschbären rote Mützen und weiße Bärte, drei überdimensionierte Nikolausfiguren bitten um eine Spende für die Jakobuskirche. Agfa schickt einen aufgeblasenen Weihnachtsmann ins Rennen, Premiere World eine Weihnachtsfrau mit hochhackigen Stiefeln und kurzem Rock mir geöffnetem Mantel. Von irgendwo hört man Wolfgang Petry tatsächlich singen: „Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?“ Eigentlich müssten jetzt alle mitsingen: Hölle, Hölle, Hölle. Tut aber keiner. Doch ein bisschen wie Geisterbahn.
Überhaupt Musik. Musik und Gerüche. Es wird gefiedelt, getrommelt, geschifferklaviert, trompetet und posaunt, wo und wie es nur geht. Oh du Fröhliche als musikalischer Overkill. Die Heilsarmee bläst, was das Blech hergibt, und ein Mädchen an der nächsten Ecke versucht sich mit einer einsamen Blockflöte gegen den vereinten Lärmterror. In ihrer Mütze liegen schon 3,40 Mark gespendetes Geld.
Von Gerüchen in der Mehrzahl zu sprechen ist beinahe Übertreibung. Mönckebergstraße und Spitalerstraße liegen nur unter einer Dunstwolke: Punsch, Benefiz-Glühwein, Feuerzangenbowle, Grog – überall dampft es dunkelrot aus Gläsern. Die ganze Stadt müßte angeschickert sein, meint man. Currywurst- und Krakaueraroma, Backfisch und gebrannte Mandeln kämpfen dagegen an. Der Wein bleibt klarer Punktsieger.
Zwischen all den roten Mützen und Mänteln weiße Overalls. Ein Aktionsbündnis demonstriert in Schutzanzügen für den Atomausstieg und inszeniert das Szenario eines Atomunfalls. Ob die Leute das am vierten Adventssamstag wahrnehmen? „Doch, die meisten gucken und nicken“, sagt einer der Demonstranten und hält das an diesem Tag für einen Erfolg. Der Verkäufer von Hinz und Kunzt bekommt an diesem Tag auch nicht mehr Exemplare verkauft als sonst. Aber ist doch kurz vor Weihnachten? „Siehst ja, hetzen alle vorbei.“
Sie hetzen zu Thalia. Bücher auf dem Gabentisch kommen immer gut. Noch mal Kienzle und Hauser, nochmal Lafontaines schlagendes Herz, nochmal Grass' Jahrhundert. Ein Paar inmitten der Bücherberge. Sie: „Kauf doch hier den Reich-Ranicki.“ Er: „Nee, dann müßte ich mich ja in der Schlange anstellen. Lass mal.“
Dann zu Brinkmann. Hier wird geworben: „Single Bells: Warum sich nicht selbst etwas schenken?“ Mobiles Telefonieren zum Beispiel. „Es war ein Handy-Jahr“, sagt Ellen Meyer, Sprecherin von Brinkmann. Der Knaller im Adventsgeschäft – mit Abstand vor Computern, CD-Brennern und all den Teletubbies-Devotionalien, vor Espressomaschinen und Lava-Leuchten. Jo, ist denn heut scho Weihnachten? Schenk mer mal.
Insgesamt werden im Hamburger Weihnachtsgeschäft vier bis sechs Prozent mehr umgesetzt als im Vorjahr, schätzt der Geschäftsführer des Einzelhandesverbandes, Ulf Kalkmann. „Mehr als wir erwartet haben.“ Der Nachmittag hilft da besonders mit, nach 14 Uhr ist es am vollsten. Dann sind zwar die Menschen in den HSV-Kutten inzwischen in Richtung Volkspark entschwunden, aber dafür ist das Umland inzwischen eingefallen, das morgens aufgrund der Schneeschauer erst noch abgewartet hatte. Hamburger drängen sich mit Pinnebergern, Elmshornern und Ahrensburgern um den DVD-Player für 799 Mark und die Metallica-CD. „Warum ist denn das so voll? Gibts hier was umsonst?“
An diesem Tag ist nichts umsonst. Atemstillstand bis 16 Uhr. Dann können die Ellbogen wieder ein bisschen ausgefahren werden. „Die Leute haben es noch nicht richtig im Kopf, dass wir bis 18 Uhr geöffnet haben und nicht um 16 Uhr schon zumachen“, sagt Meyer. Sie findet das mit dem Stress im Weihnachtsgeschäft gar nicht so schlimm. „Für die MitarbeiterInnen ist der ruhige Februar viel unangenehmer. Dann geht die Zeit so langsam rum.“
Mittreiben in der Menge. Bei Brinkmann rausgespült, bei Karstadt schließlich angeschwemmt. Noch eine Stunde bis zum Kassenschluss. Noch zwei Geschenke. auf der Liste Vielleicht reicht die Zeit. Oder man kann am Dienstag oder Mittwoch wieder kommen. Und an Heiligabend ist ja auch noch den ganzen Vormittag über geöffnet.
Das Plakat bei Lust for Life in der Mönckebergstraße verspricht: „Genießen Sie die schönen Dinge des Lebens.“ Keine Zeit. Ein andermal vielleicht. Noch sechs Tage. Nur noch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen