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Kinder zum Klauen abgerichtet

Seit gestern stehen ein Deutscher und zwei Rumänen wegen gewerbsmäßigen Bandendiebstahls vor Gericht. Sie sollen Kinder aus Rumänien nach Deutschland geschleust und zum Stehlen gezwungen haben

Die Geduld des Richters, des Staatsanwalts, der Schöffen, der Angeklagten, der Verteidiger und der Zuschauer wurde auf eine harte Probe gestellt. Über anderthalb Stunden dauerte die Verlesung der Anklageschrift in dem gestern vor dem Landgericht eröffneten Verfahren gegen einen Deutschen und zwei Rumänen, denen gewerbsmäßiger Bandendiebstahl und schwerer Raub vorgeworfen wird.

Angeklagt sind der selbstständige Kaufmann Frank-Michael M. (48), der Schlosser Costal S. (29), der über zehn Aliasnamen verfügt, und der Schlosser Vasile I. (35). Sie sollen zwischen Herbst 1993 und Winter 1997 zusammen mit sechs gesondert verfolgten Personen Kinder, Jugendliche und Heranwachsende aus Rumänien nach Deutschland eingeschleust und sie zu Diebstählen und Einbrüchen gezwungen haben. Weil der Staatsanwalt jeden einzelnen der über 130 Diebstahls- und Einbruchsfälle verlesen musste, erlaubte ihm der Vorsitzende Richter, sitzen zu bleiben. Normalerweile wird die Anklage im Stehen verlesen.

Frank-Michael M. ist mit seinem fast weißen D’Artagnon-Bart und der Glatze eine imposante Erscheinung. Er soll Wohnungen zur Unterbringung der so genannten Klau-Kinder, die in der Regel über Polen, wo sie „ausgebildet“ werden, nach Deutschland geschleust werden, angemietet haben. Während die normalen Monatsmieten zwischen 172 und 729 Mark lagen, soll er 2.600 Mark verlangt haben. Dafür, so die Anklage, mussten die Kinder stehlen – zwischen 500 und 2.000 Mark pro Tag, in Einzelfällen mehr. In „bescheidenem Maße“ haben die „Führungspersonen“ für den Lebensunterhalt der Kinder gesorgt.

In der Anklage sind Filialen von Woolworth, Hertie oder Karstadt ebenso aufgeführt wie Trödelmärkte,Tankstellen, Wohnungen oder Lottogeschäfte. Bei dem Diebesgut handelt es sich um Portemonnaies mit wenigen Groschen oder mehreren hundert Mark, um Geldkarten, Panzerschränke mit BVG-Karten, Videorekorder, Computerspiele, Autowaschkarten und eine Wollmütze mit der Aufschrift „Borussia Dortmund“. Gelegentlich hielten sich die Kinder „zur Tarnung“ Zeitungen oder Tüten vor die Hände. Einige Diebstähle konnten verhindert werden, weil die Betroffenen selbst oder Ladendedektive eingriffen.

Spurten die Kinder nicht, wie von ihren „Führungspersonen“ gefordert, wurden sie bedroht. Laut Anklage sollen die Angeklagten vier Kinder mit Schlägen und einer silbernen 9-mm-Pistole eingeschüchtert haben. Einer soll einem Kind mit der Pistole auf die Knie gezielt und gedroht haben, sie zu zerschießen. Anderen soll er angedroht haben, ihre Finger abzuschneiden, sie sexuell zu missbrauchen oder sie „zum Verzehr der Notdurft“ zu zwingen. Danach mussten die Kinder weitere Diebstähle begehen. Ihnen wurde eingebläut, bei Festnahmen falsche Personalien anzugeben.

Nachdem letztes Jahr zwei Kinder in Stuttgart aus Angst vor ihren Bandenchefs ausgepackt hatten, durchsuchte die Berliner Polizei mehr als 20 Verstecke der Bandenmitglieder. Nach Ansicht der Ermittler handelt es sich bei den drei Angeklagten nur um „die Spitze des Eisbergs“.

In Berlin sind der Polizei mehr als 80 Kinder bekannt, die der Bande angehörten. „Wenn sie täglich nur die Hälfte ihres Solls von 2.000 Mark erfüllt haben, haben sie jährlich einen Schaden von mehr als 15 Millionen Mark angerichtet“, erklärte im vergangenen Jahr der Leiter der Arbeitsgruppe „Rumänische Banden“.

Weil gestern einer der Angeklagten den Anwalt wechselte, wurde die Hauptverhandlung nach Verlesung der ausführlichen Anklageschrift unterbrochen. Kommenden Mittwoch wird sie fortgesetzt. Zwei der Angeklagten haben gestern angekündigt auszusagen.B. BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Zitat:

DROHUNGEN GEGEN „KLAU-KINDER“:

Finger abschneiden, Knie zerschießen, sexueller Missbrauch, eigenen Kot essen

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