: Die Rutschbahn ist bereits gut geschmiert
Der Regierungssitz ist gespalten. Oder doppelköpfig, wie man will. Doch immer mehr Abgeordnete, Minister und Beamte zieht es in die neue Hauptstadt. Einzig Erfolg versprechende Therapie für die Regierung: Ein Dienstsitz muss weg. Das wird wohl kaum Berlin sein
von FRANZISKA REICH
Wenn Vera Lengsfeld neues Faxpapier ordert, hat sie meist noch einen ganzen Stapel da. Der reicht zwar noch für gut drei Wochen und doch – es wird Zeit für die Bundestagsabgeordnete, den Bestellschein für Büromittel auszufüllen.
Denn Frau Lengsfeld sitzt in Berlin, Hauptstadt, und das Papier lagert in Bonn, Bundesstadt, und die Distanz zwischen Papier und Frau Lengsfeld beträgt 580 Kilometer. Plus Verwaltungsweg. Das ist weit. Laut der CDU-Abgeordneten drei Wochen weit, laut Bundestagsverwaltung drei Tage weit.
„Irrsinn“, nennt das Vera Lengsfeld. „Anfangsschwierigkeiten“, die Bundestagsverwaltung. Aber Vera Lengsfeld glaubt nach sechs Monaten nicht mehr an die Mär vom Anfang und sehnt sich nach der Rutschbahn. Und damit steht sie nicht allein.
Auch Peter Danckert (SPD) sehnt sich nach der Rutschbahn. Vorsichtig formuliert er: „Effektiver wäre es, wenn alle unter einem Dach wären.“ Deshalb regt er an, die Beschlusslage des Bundestages von 1994, die das Schlamassel in schöne Worte goss, noch einmal zu überprüfen.
Den Beschluss zu kippen, fiele nicht schwer. Dafür genügte eine einfache Mehrheit im Parlament. Doch angehen mag das Projekt keiner, weil bald Wahlen sind in Nordrhein-Westfalen. Dort hört derartige Überlegungen niemand gern.
Die Nordrhein-Westfalen im allgemeinen nicht, die Bonner im besonderen nicht, und vor allem einer nicht: Norbert Hauser (CDU), Bundestagsabgeordneter Bonns, ’n Jung vom Rhein und erklärter Feind jedweder Rutschbahntendenz.
Norbert Hauser mag das Rutschen nicht. Zu seinem Entsetzen aber entpuppen sich immer mehr Kollegen als wenig rutschfest. Erster Beweis: Die Minister sind andauernd in Berlin. Zweiter Beweis: Es wurden mehr Beamte nach Berlin verfrachtet als ausgemacht. Sogar die Deutsche Bischofskonferenz folgte der Regierung, was den Christdemokraten besonders erbittert. Schließlich ist er Katholik.
Dritter Beweis: Der Innenausschuss lehnte seinen Antrag „Wort halten“ ab. Mit dem wollte Norbert Hauser endlich die Bundesregierung festnageln – zugunsten Bonns. Die Damen und Herren wollen sich aber nicht festnageln lassen – Kanzler Gerhard Schröder nicht, der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Karl Diller nicht, die ganzen Rot-Grünen nicht und auch nicht die Partei des Demokratischen Sozialismus. Also mutmaßt der geplagte Norbert Hauser: Die wollen alle wirklich rutschen.
Hinter den Anfangsschwierigkeiten vermutet er Absicht. „Es befällt die Damen und Herren Abgeordneten doch die Maul- und Klauenseuche, wenn sie nur das Wort E-Mail hören,“ sagt er. Dabei wird in allen Ministerien das Hohelied auf das Paradies der modernen Kommunikationstechnologie gesungen. Die Beamten liebten das alle Ministerien verknüpfende Intarnet. Und Videokonferenzen erfreuten sich regen Zuspruchs, was die Reisekosten enorm senke, glucksen Pressereferenten glücklich. Albträumt Norbert Hauser?
Kaum. Das Hohelied klingt in Anbetracht der Wirklichkeit ziemlich schräg. In einigen Ministerien ist die Videokonferenz-Anlage noch immer nicht installiert. Und in denen, in denen die Möglichkeit besteht, wird der persönliche Kontakt dem Mattscheibenantlitz vorgezogen. „Wirklich Wichtiges wird immer live besprochen, das wird sich auch nicht ändern“, beschwört Pressesprecher Richard Schild, Ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. „Da geht es nicht, mal schnell auf dem Gang im Amt etwas zu bequatschen.“
Ein Beamter aus dem Bauministerium sieht gar in der modernen Segnung der Videokonferenz nicht mehr als ein bebildertes Telefon.
Auch das Intranet hat seine Tücken. So modern Mails oft tagelang in den Leitungen,weil der Adressat seinen elektronischen Briefkasten nicht leert – vernachlässigt, verdrängt, vergessen.
Wer freitags eine Mail schickt, kann am Montagnachmittag damit rechnen, dass sie gelesen wird. Wird sie gelesen, so hat kaum einer den Überblick, welche Mail bereits bearbeitet, welche Mail ausgedruckt und welche Mail für den Papierkorb bestimmt ist. Das ist Confusiona electronica.
Es gibt Irrsinn, der nur ärgerlich ist. Das ganz normale Faxpapier zum Beispiel. Das ist Irrsinn, der vorübergeht. Wie die Bücher der Parlamentsbibliothek. Die lagern zwar noch in Bonn, kommen aber nach Berlin, sobald die Parlamentsgebäude fertig gestellt sind. Das kann dauern.
Auch dem Besorgnis erregenden Anstieg der Reisekosten könnte Einhalt geboten werden, wenn der Grund der Reise und die Anwesenheit der Beamten und Beamtinnen auch montags und freitags im Ministerium stärker kontrolliert würden.
Netter Nebeneffekt: Der ewige Spott über die so genannten „Di-Mi-Do-Beamten“ hätte endlich ein Ende. Die Technologieprobleme nähmen mit ein bisschen Fortbildung für alle Beteiligten dann radikal ab.
Kleiner Irrsinn am Rande: Der größte Teil der zu Schulenden befindet sich inzwischen in Berlin, das Schulungszentrum aber, wie könnte es anders sein, in Bonn. Die Verlegung sei beabsichtigt, wenn die erforderlichen Räumlichkeiten zur Verfügung stünden. Also auch vorübergehender Irrsinn.
Es gibt aber auch Irrsinn, der von klebriger Dauer ist. Weil er Kind des Systems ist. Zu diesem Irrsinn gehören die zweiten Dienstsitze der Ministerien an Rhein oder Spree.
Dauerhaft auch der Irrsinn der Ausschusstätigkeit. Im November, während der Beratungen zur Gesundheitsreform, befand sich der Abteilungsleiter im Gesundheitsministerium, Hermann Schulte-Sasse, vor allem in der Luft.
„Chaotisch“ sei die Situation gewesen, inzwischen aber habe sich das Ganze gelegt. Für ihn, denn die Gesundheitsreform ist ja jetzt unter Dach und Fach. Im Moment befinden sich andere in der Luft und ihre Nerven am Boden.
Flüge können kaum so gebucht werden, dass direkt nach der Landung der Termin und direkt nach dem Termin der Abflug liegt. Ressortbesprechungen, in denen der Ministeriale aus Bonn einen Zehn-Minuten-Beitrag hält, kosten so leicht einen gesamten Arbeitstag.
Früher erledigte man den Weg oft zu Fuß. Heute sollte man sich neunzig Minuten vor Abflug am Schalter melden. Tickets sind teuer, acht Stunden Arbeitsausfall eines Ministerialen aber noch teuerer. Kosten, die nicht berücksichtigt werden bei der Kostenanalyse der Bundesregierung.
Axel Müller vom Bund der Steuerzahler hält das heutige Modell für kostenintensiv und nicht auf Dauer arbeitsfähig. Nicht arbeitsfähig, weil der Irrsinn täglich ist. Sitzungen von Bonner Ministerien finden schon mal in Berlin statt, weil die Hauptstädter nicht in die Provinz zu bewegen sind. „Je wichtiger die Leute sind, die um den Tisch sitzen sollen, desto eher sollte man sich in Berlin treffen“, sagt Rainer Hinrichs-Rahlwes, Abteilungsleiter im Bundesumweltministerium.
Das ist die Schere, die greift in den Köpfen der Beamten. Dieser dauerhafte Irrsinn ist psychologischer Natur. Und Psychologie hat mit Logik nicht unbedingt etwas zu tun.
Umweltminister Jürgen Trittin hält höchstens noch die Pflicht in der kleinen Stadt am Rhein. Und die Ermahnungen des Personalrates. Das aber nur selten. So geht es den meisten Ministern. Sie sind Abgeordnete – also müssen sie sich in den Sitzungswochen ohnehin an der Spree einfinden. Hier tagt das Kabinett, hier debattieren Parlamentskollegen, von hier berichten die Medien.
Das politische Tagesgeschäft entscheidet sich in Berlin. Hinrichs-Rahlwes sagt über die Berlin-Liebe seines Ministers: „Wäre Trittin häufiger in Bonn, dann könnte er ein gemütliches Leben führen. Dann wäre er aber nicht Minister.“
Auch Gesundheitsministerin Andrea Fischer hält sich lieber in Berlin auf. Und weil sie ihre Lieben gerne um sich schart, verlagerte sie anstatt der vereinbarten 20 Prozent 25 bis 27 Prozent der Arbeitsplätze an die Spree. Das ist die Rutschbahn.
Die Minister in Bonn lieben Berlin. Und das bereits sechs Monate nach dem Umzug. Und auch die unteren Ränge der Ministerien lächeln säuerlich, wenn sie die Gemütlichkeit der kleinen Stadt preisen. Bonn ist unattraktiv geworden, „Lager II“ nennen es die Beamten hinter vorgehaltener Hand. „Wer Karriere machen will, der geht mit Sicherheit nach Berlin“, sagt eine Beamtin aus dem Außenministerium.
Wer schnell ist, dynamisch, modern, der flaniert in der Friedrichstraße. Die neue Mitte ist in, die Hauptstadt ist in und Bonn eben out. Das ist nicht neu, aber wahrer denn je. Und die, die in Bonn geblieben sind, bekommen langsam zu spüren, was es heißt, in einer Stadt zu sitzen, die schon immer als provinziell und provisorisch galt.
Wissenschaftler haben den psychologischen Irrsinn untersucht. Professor Peter Meusburger von der Universität Heidelberg hat festgestellt: „Wer Erfolg sucht, Sicherheit und Prestige, drängt ins Zentrum der Macht.“ Hochqualifizierte und Entscheidungsträger können, laut Meusburger, ihre volle Wirkung nur ab einer bestimmten Größe des Ortes entfalten. Dafür sei Bonn schon immer ungeeignet gewesen.
Weil alle Branchen, die Wettbewerb und einem raschen Wandel unterliegen, Vorteile in Zentren genössen, müsse eigentlich jeder vernünftig denkende Mensch dafür plädieren, dass alles nach Berlin zieht. Wissen und entsprechend qualifizierte Arbeitsplätze werden sich in Zukunft stärker denn je in Zentren konzentrieren.
Martina Fromhold-Eisebith vom Institut für Geographie der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen erklärt: „Zentren der Macht haben immer eine Sogwirkung. Es ist wichtig, dass ein Austausch zwischen den Schlüsselpersonen, zwischen Wissenschaftlern, Politikern und Unternehmen stattfindet.“ Dabei sei die räumliche Nähe der Beteiligten unabdingbar. Wenn die gesamte Leitungsebene der Bonner Ministerien nach Berlin abwandert, so befinden sich in Bonn vor allem die Mitarbeiter zweiter Wahl – die Mitarbeiter, die gut arbeiten, die zuarbeiten, die aber keine Macht besitzen.
Die, die Macht besitzen, trinken Berliner Weiße in Rot oder Grün und kommunizieren über ISDN-Standleitungen mit den Übriggebliebenen am Rhein.
Der Sog gen Osten wird immer stärker. Inzwischen ist es schwer, Spitzenjobs zu besetzen, die sich in der Bundesstadt anbieten. Bundesfinanzminister Hans Eichel hat diese Erfahrung mit gleich drei freien und hoch dotierten Stellen gemacht. Keiner wollte. Karrierehungrige vermuten eher Abstellgleis als Sprungbrett hinter den Jobs in Bonn. Wer nach Berlin zieht, hat Feuer im Herzen und Ehrgeiz im vorwärts gewandten Blick. Wer nach Bonn zieht, macht sich’s gemütlich. Das sind Klischees. Aber die Realität bestätigt: Die charismatischen Persönlichkeiten sind nach Berlin abgewandert. Nicht nur Politiker, auch Künstler, Forscher, Medienstars strömen in die Hauptstadt. „Dadurch entstehen Synergien, die für den persönlichen Erfolg wichtig sind,“ sagt Martina Fromhold-Eisebith, „das hat Bonn verloren.“ Wenn das Bonn das je hatte.
Da kann Norbert Hauser, der eiserne Mann aus Bonn, Presseerklärungen schreiben, so viel er will – selbst die größten Berlin-Hasser lieben Bonn schon lange nicht mehr, und Bonnophile scheinen verstummt. Offensichtlich wurde das spätestens bei einer Veranstaltung im Lieblingslokal der Bonner Legionäre, der „Ständigen Vertretung“. Das Motto der Veranstaltung: Hauptstadt versus Bundesstadt. Das Mittel: Polemik.
So hätten die Rheinländer reden können, schreien und brüllen – für Bonn und gegen Berlin. Doch ihre Reden waren nicht lodernd, nicht flammend, sie glimmten nicht einmal.
Und selbst der Ur-Bönnsche Jung Guido Westerwelle (FDP) grinste nur breit und sprach gelassen: „Ich mag Berlin‘, stieg aus der Bütt und hinterließ die Erkenntnis: Bonn ist schon gerutscht.
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