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Wehrhaftes Missverständnis

Wenn es um islamistische Religionsgemeinschaften geht, übernehmen auch Linke die Optik des Verfassungsschutzes – und verkennen damit die wichtigsten Themen der Einwanderungsgesellschaft

von MICHA BRUMLIK

Einer der liberalen Cheftheoretiker des Kalten Krieges, Sir Karl Popper, hätte nicht zu träumen gewagt, dass seine Parole, den Feinden der Freiheit keine Freiheit zu gewähren, noch lange nach dem Sieg des Westens Triumphe feiern würde. Und noch vor zehn Jahren hätte sich niemand ausgemalt, dass gestandene Linke eines Tages genau jene Optik übernehmen würden, an der sie jahrelang litten: die des Verfassungsschutzes. Dabei geht es weder um den brandgefährlichen Neonazismus noch um die in diesem Zusammenhang gar nicht einschlägige Koalition der SPD mit der vom Verfassungsschutz beobachteten PDS in Schwerin, sondern um die drittgrößte Religion in Deutschland – den Islam. Die zwischen Eberhard Seidel, Thomas Hartmann und Irmgard Spuler geführte Debatte um islamistische Gruppen ist gewiss von großer fachlicher Kenntnis getragen und stellt gleichwohl ein einziges Missverständnis dar. Auch wenn die Dossiers des Verfassungsschutzes, eine aufmerksame Lektüre türkischsprachiger Vereinsblättchen und eine Überprüfung der Biografien islamischer Aktivisten politische Einstellungen zu Tage fördern, die dem Grundgesetz widersprechen, verkennt diese Optik eines der wichtigsten Themen der multireligiösen Einwanderungsgesellschaft.

Es war Max Frisch, der der Sozialdemokratie schon vor Jahren bezüglich der „Gastarbeiter“ ins Stammbuch schrieb, dass man Arbeitskräfte gerufen habe und Menschen gekommen seien. Inzwischen herrscht zwar Konsens, dass die Arbeitskräfte Menschen sind, aber noch nicht darüber, dass sie religiöse Menschen sind. Dabei ist jene die multikulturelle Szene umtreibende Frage, ob die Immigranten ihren Glauben mitgebracht oder erst als Reaktion auf hiesige Diskriminierung ausgebildet haben, völlig unerheblich. Niemand – außer akademischen Religionssoziologen – interessiert sich schließlich dafür, warum jemand katholisch bleibt oder aus einer lutherischen Landeskirche austritt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Kurzfristig werden in Deutschland mehr als drei Millionen Muslime leben, und in den großen Städten könnten dann bald 40 Prozent der Jugendlichen dieser Religion angehören. Der geheimdienstliche beziehungsweise investigationsjournalistische Blick auf die religiösen Organisationen der Muslime, der dem Muster folgt, das der Verfassungsschutz auf die Friedensbewegung und die Antifa auf die Naziszene legt, sieht nichts, sondern verkennt alles.

Er verkennt erstens, dass Deutschland im Unterschied zu laizistischen Staaten wie Frankreich als staatskirchenrechtlich verfasste Republik Religionsgemeinschaften besondere Rechte einräumt. Bekanntlich garantiert das Grundgesetz allen Religionen im Grundsatz gleichen Zugang zu Steuern und schulischer Unterweisung. Das war bei Mennoniten und Griechisch-Orthodoxen nie ein Problem. Angesichts der Hindernisse, die einzelne Länder islamischen Gruppierungen in den Weg legen, wird deutlich, dass in diesem Fall das Grundgesetz nicht gilt.

Der geheimdienstliche Blick verkennt zweitens, dass Texte das eine und die Lebenswirklichkeit das andere sind. Sogar wenn sich nachweisen ließe, dass der Spitzenfunktionär eines Dachverbandes vor Jahren Beisitzer einer Organisation war, die für einen Gottesstaat eintritt, sagt dies noch gar nichts über das Leben, die Hoffnungen und die Wünsche jener Zehntausende, die ihre Kinder derlei Organisationen anvertrauen oder in ihrem Rahmen beten. Wie reaktionär sind eigentlich Menschen, die noch immer der katholischen Kirche mit ihrem sexualfeindlichen, im Aidszeitalter Kondome verbietenden Papst angehören?

Der geheimdienstliche Blick verkennt drittens – den eigenen liberalen Bekenntnissen zuwider –, dass in einer Demokratie nur zählt, was veröffentlicht wird. Es mag sein, dass viele Funktionäre islamischer Organisationen auf Deutsch das eine sagen und auf Türkisch das andere meinen. Behaftet und kritisiert werden sie für das, was sie hier in der Öffentlichkeit von Schulen, Fortbildungsstätten oder Gotteshäusern tun – und nicht für das, was sie irgendwann bezüglich eines Gottesstaates im Orient im geschlossenen Kreis äußerten. Wer gelegentlich vor Industriellen oder Mittelständlern referiert, kennt vielleicht die nach dem dritten Glas Wein aufkommende Frage, ob „wir“ uns die Demokratie noch leisten können und ob nicht China – früher war es Japan – mit seinen autoritären Strukturen besser dran sei. Das spricht gegen Honoratiorenvereine, aber wäre das ein Grund, sie zu verbieten?

Wenn den islamischen Religionsgemeinschaften freilich die Überprüfung ihres Glaubens im wissenschaftlichen Diskurs theologischer Fakultäten und der alles erschütternden jugendlichen Lebenswelt in der Schule erspart bleibt, werden sie genau die fundamentalistischen Haltungen ausbilden, die man ihnen heute vorhält. Erstaunlicherweise erweisen sich AutorInnen wie Eberhard Seidel und Irmgard Spuler als die besten Verbündeten dessen, was sie kritisieren. Zudem legen sie eine eigentümliche politische Naivität an den Tag. Spulers Forderung, bei Gesprächen mit dem Islam auch Gruppen wie die Sufis – die übrigens nicht wenige Muslimbrüder stellten –, die Aleviten oder die Ahmadya zu berücksichtigen, ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn sich eine politische Partei bei Gesprächen mit „Christen“ nicht mit der katholischen Amtskirche oder der EKD auseinander setzen würde, sondern mit den Zeugen Jehovas, mit Mormonen oder Anthroposophen. Damit ist nichts über die Dignität, wohl aber etwas über die Quantität dieser Konfessionen gesagt.

Es wäre emanzipatorisch und vernünftig, das deutsche Staatskirchenrecht ebenso aufzugeben, wie man fatalerweise den Asylartikel des Grundgesetzes ausgehebelt hat. Für dieses Staatskirchenrecht gibt es, klammert man einmal die Diakonie aus, in einer modernen, liberalen Gesellschaft keine Gründe. Der Hinweis der Kirchen, dass allein dieses Staatskirchenrecht dem Totalitarismus begegnen könne, trifft nicht zu. Schließlich haben die Kirchen dem Nationalsozialismus mindestens teilweise den Weg geebnet und ihm keineswegs geschlossen widerstanden. Zudem sind die meisten Täter und Mitläufer unter dem Staatskirchenrecht zur Schule gegangen, was sie auch nicht zu besseren Menschen gemacht hat. Aber wie dem auch sei: In absehbarer Zeit wird sich eine entsprechende Grundgesetzänderung nicht durchsetzen lassen, und so bleibt – allein aus Gründen des Gleichheitsgebots – nichts anderes, als den vielfältigen muslimischen Religionsgemeinschaften entsprechende Rechte einzuräumen.

Der wissende Blick um Traktätchen und Vernetzungen teilt mit dem geheimdienstlichen Blick im Übrigen ein tief pessimistisches Weltbild – Lernprozesse sind von vornherein ausgeschlossen. Mit dieser Haltung lässt sich vielleicht ein Kalter Krieg, aber keine offene Gesellschaft gewinnen.

Hinweise:Nach dem dritten Wein sind auch deutsche Honoratioren für autoritäre SystemeDer geheim-dienstliche Blick ist pessimistisch – Lernprozesse sind ausgeschlossen

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