: Grüne Kettenreaktion
Der Atomkonsens spaltet die Grünen. Parteichefin Radcke: Ein Drittel der Partei könnte austreten. Viele Landesverbände ganz dagegen. Mehrheit für Atomausstiegs-Papier scheint trotzdem sicher
BERLIN taz/dpa ■ Nach der Vereinbarung über den Atomkonsens schlagen bei Bündnis 90 / Die Grünen die Wellen hoch. Zahlreiche PolitikerInnen der Partei, unter ihnen der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele, kritisierten gestern die Vereinbarung zwischen rot-grüner Regierung und Energiekonzernen, die das Abschalten der AKW nach durchschnittlich 32 Jahren vorsieht. Am deutlichsten wurde die grüne Noch-Bundesvorstandssprecherin Antje Radcke. Sie befürchtet, dass sich die Linken von ihrer Partei abspalten, wenn sich die Mehrheit für den Atomkonsens ausspricht. „Ich kann mir aber keine Zukunft unserer Partei vorstellen, wenn ein Drittel der Partei uns verlässt“, sagte sie dem Nachrichtensender N 24.
Laut Radcke ist der Konsens untragbar. Sie erwägt den möglichen Verzicht auf ihre nochmalige Kandidatur für das Amt der Sprecherin. Dank der Gegenkandidaturen von Renate Künast (Berlin) und Fritz Kuhn (Stuttgart) waren Radckes Chancen hierauf allerdings schon vor ihrer Attacke gegen die grünen Atomunterhändler geschmälert. Radcke will nun die Bundesdelegiertenkonferenz nächstes Wochenende in Münster abwarten. Dort wird über die Atomkonsens-Vereinbarung und den Parteivorstand abgestimmt.
Neben dem Berliner Sprecher des Grünen-Bundesarbeitskreises Energie, Hartwig Berger, sprachen sich auch die Arbeitsgruppen für Umwelt und Wirtschaft des Berliner Landesverbandes gegen die Vereinbarung aus. Für den sachsen-anhaltinischen Landesverband sei der Konsens nicht akzeptabel, sagte Sprecher Thomas Bichler. Ebenso ablehnend äußerte sich die thüringische Sprecherin Astrid Rothe. Die Niedersachsen mit ihrer bisher starken Verwurzelung im Wendland werden sowieso dagegen stimmen.
Aus anderen Landesverbänden kamen zwar kritische Stimmen – das heißt aber noch lange nicht, dass sie das Konsenspapier in Münster ablehnen werden, im Gegenteil: „Ich halte diesen Kompromiss für tragbar und zustimmungsfähig“, betonte zum Beispiel der hessische Landesvorstandssprecher Hubert Kleinert. Ein Scheitern der rot-grünen Koalition in Berlin wegen der Frage einer Restlaufzeit von 30 oder von 32 Jahren sei der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln. Grundsätzliche Zustimmung kam auch aus Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Sachsen. Es sei ein Signal, dass eine Industrienation wie Deutschland aus der Atomenergie aussteige, sagte der brandenburgische Landesvorsitzende Roland Vogt. Die nordrhein-westfälische Grünen-Chefin Barbara Steffens hält den Konsens für zu mager, geht aber trotzdem von einer knappen Mehrheit bei der Landesdelegiertenkonferenz ihrer Partei an diesem Wochenende aus.
Währenddessen verstärken sich die Zweifel an der Zahl von durchschnittlich 32 Jahren maximaler Betriebszeit pro AKW. Laut Susanne Ochse, Atomexpertin der Umweltschutzorganisation Greenpeace, läuft die Reststrommenge, die die Meiler bis zum Abschalten noch produzieren dürfen, „auf rund 35 Jahre“ normalen Betriebs hinaus. Nach Einschätzung von Ochse hat sich die Atomindustrie durchgesetzt, indem eine viel zu hohe Auslastung „von etwa 92 Prozent“ pro AKW und Jahr angesetzt worden sei. Im Durchschnitt hätten die Meiler in den vergangenen drei Jahrzehnten aber nur 78 Prozent der theoretisch möglichen Strommenge hergestellt.
Die AKW-Betreiberin RWE AG gab Donnerstagabend bekannt, dass sie in Kürze einen Antrag auf Abriss des nun endgültig abgeschriebenen AKW Mülheim-Kärlich stellen werde.
Das Bundesumweltministerium hat ein Bürgertelefon zum Atomausstieg eingerichtet: Unter (02 28) 30 55 55 50 können sich Interessierte täglich zwischen 9 und 17 Uhr von Fachleuten erklären lassen, wann die ersten AKW abgeschaltet werden.
KOCH/KPK/REM
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