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Verpflichtung zur Fürsorge

Erzieherinnen aus Bergisch Gladbach lassen sich vom Islamwissenschaftler Mohammad Heidari und dem Soziologen Reinhard Hocker über den Islam und die Kulturwerte der MigrantInnen aufklären

von ISABELLE SIEMES

Selma spielt die Szene in ihrem Kopf durch, wieder und wieder. Die 18-Jährige erinnert sich noch genau an die Reaktion ihres Vaters vor vier Jahren: Du wirst aber das Kopftuch weiter tragen und in der Moschee beten. Damals hat sie ihm eröffnet, dass sie von jetzt an mit Jeans in die Schule ginge – nicht mehr im traditionellen langen Kleid wie seit ihrem sechsten Lebensjahr. Wenn ich fünfmal am Tag bete, die Riten einhalte und die Moschee besuche, dann habe ich keine Zeit mehr für meine Hausaufgaben und für meine Freunde, wird sie heute Abend ihrem Vater sagen und erklären: Ich werde deshalb das Kopftuch ablegen – für immer. Dann fragt sich die junge Türkin: Werde ich jemals wieder Freude an etwas haben?

Die Geschichte von Selma (Name geändert) hat der Kölner Soziologe Reinhard Hocker aufgeschrieben. Sie stammt aus einem Interview mit der heute 22-jährigen EDV-Spezialistin. Hocker erzählt die Vita der Migrantin der zweiten Generation vor einer Gruppe von Erzieherinnen. Sie sind nach Bergisch Gladbach gekommen, um sich über den Islam und muslimische MigrantInnen in Deutschland fortzubilden. „Wie glauben Sie, hat die Familie von Selma darauf reagiert?“, fragt Hocker seine Zuhörerinnen. „Der Vater hat sie in die Türkei geschickt“, meint eine. „Der Großvater hat sie ins Gebet genommen“, vermutet eine andere Erzieherin. „Nein, die Mutter“, ruft eine von hinten. Alles falsch. „Der Vater hat sie angefleht, das Kopftuch weiter zu tragen und ihr ein Auto versprochen“, erklärt Hocker. Die Mutter hingegen sei die heimliche Verbündete gewesen bei dem „schwierigen und schmerzhaften Weg zur autonomen Lebensgestaltung“.

Einige Teilnehmerinnen schauen überrascht, andere skeptisch, manche nachdenklich. Die 22 Frauen und ein Mann sind zu der Fortbildung in die „Regionale Arbeitsstelle zur Förderung von Zuwandererfamilien“ (RAA) gekommen, um mehr über den Hintergrund der muslimischen Eltern und Kinder zu erfahren, mit denen sie täglich zu tun haben. Sie wollen vor allem wissen: „Wie kann ich die Eltern erreichen?“ Das steht gleich mehrmals auf den roten Karten an der Wand, auf denen sie ihre Erwartungen formuliert haben. „Ich kann den Eltern meinen pädagogischen Ansatz gar nicht vermitteln“, klagt eine Erzieherin einer evangelischen Einrichtung bei der Einstiegsrunde. Auch mit der muslimischen Geschlechtererziehung haben die anwesenden Frauen Schwierigkeiten. „Die Jungs sind wie kleine Könige“, platzt eine heraus. Die Mädchen hingegen müssten alles machen. „Ein Mädchen wird bei uns immer von ihrer wenig älteren Schwester abgeholt, die auch noch einen Säugling auf dem Arm tragen muss“, erzählt Beate Lang aus einer Kindertagesstätte mit 20 Prozent ausländischen Kindern. Sie will etwas dagegen unternehmen.

Der erste Schritt zur Lösung solcher Konflikte ist das Verständnis der muslimischen Gemeinschaft. Der Islamwissenschaftler Mohammad Heidari, der zusammen mit dem Lehrer Reinhard Hocker die Fortbildung leitet, beschreibt deren Grundsätze: „Es gibt eine gegenseitige Verpflichtung zur Fürsorge.“ Was für uns wie Kinderarbeit aussähe, sei im muslimischen Kontext Ausdruck der familiären Bindung und Fürsorge. Das soziale Miteinander würde in den Familien hochgehalten. Er bringt ein Beispiel: Ein deutsches Kind streitet sich mit einem türkischen. Später auf dem Pausenhof wird es von den älteren Brüdern des Türken bedroht. „Das bedeutet nicht Bandenbildung, sondern Einbindung in die Gemeinschaft“, erklärt Heidari. Zentral in der türkischen Erziehung sei die Botschaft: Du bist nicht allein. „Wie man das Vorgehen der Jungen moralisch bewertet, ist eine andere Sache“, betont er. Die muslimische Kulturgemeinschaft baue auf Gruppenidentität auf, erklärt Heidari an einem Schaubild. Im Gegensatz dazu steht die westliche Erziehung zur Individualität.

„Es gibt mittlerweile auch viele modernistische Familien, die sich am Westen orientieren“,stellt Heidari fest. Diese würden uns im Alltag nicht auffallen. Die Konflikte entstehen mit den traditionalistischen Familien, insbesondere mit den religiös orientierten. „Bei ihnen ist Ehre das einzige Konzept zur persönlichen Abgrenzung in der Gruppe“, erörtert der Islamwissenschaftler. Ehre heißt für muslimische Männer, die Familie zu versorgen. Für Frauen bedeutet Ehre, die Familie zusammenzuhalten und Kommunikation mit anderen zu betreiben. „Deshalb ziehen Türken in die Nähe von anderen Türken“, erklärt Heidari das Entstehen der Ghettos aus dem türkischen Kulturkontext. Wenn nun die Geschlechterrollen aufgebrochen werden, geht die Identität verloren. Nicht nur der einzelnen Männer und Frauen, sondern der Kulturgemeinschaft. Das Konzept von Ehre und Gruppe funktioniert dann nicht mehr. „Diese kulturelle Verschiedenheit können wir doch nie überwinden“, stöhnt eine Erzieherin auf. „Sie dürfen nicht vergessen, dass die jetzigen Eltern Migranten der zweiten Generation sind“, vermittelt Reinhard Hocker.

Die Teilnehmenden gehen teilweise diskutierend, teilweise in Gedanken versunken in die Mittagspause – zum Döneressen beim Türken. Danach beginnt Hocker seinen Vortrag mit der Geschichte von Selma, die ihr Kopftuch als Symbol des traditionellen Islam abgelegt hat. Die junge Türkin steht exemplarisch für die Generation der hier aufgewachsenen Muslime. Viele wollen ihr Leben selbst gestalten, wie es ihnen als Kulturwert in deutschen Schulen vermittelt wird. Gleichzeitig möchten sie aber auch nicht mit ihren Eltern brechen. Diese seien oftmals sehr traditionalistisch, erörtert Hocker, weil sie sich in Deutschland ihre kulturelle und religiöse Identität erhalten wollten. Die heute 20- bis 30-jährigen MigrantInnen basteln sich ihre Biografien aus Autonomie und islamischem Glauben. „Dabei wird der Glaube gegen die religiöse Tradition gewendet“, erklärt Hocker. Der Islam würde zu einer Sinninstanz, die auch auf das Alltagsleben bezogen wird.

Der Soziologe verweist auf eine Studie der Uni Bielefeld, nach der 50 Prozent der befragten muslimischen Jugendlichen an Gott glauben, sich aber nicht als religiös bezeichnen. 65 Prozent der Befragten geben an, dass der Islam die Funktion habe, ihr Selbstvertrauen zu stärken. Wenn der Weg zur individuellen Lebensführung abgebrochen wird, schlägt die Autonomieorientierung um in Abgrenzungsorientierung. „Da haben vor allem fundamentalistische Organisationen leichtes Spiel“, warnt Hocker. Viele junge MigrantInnen hätten ohnehin Vorbehalte gegenüber den Deutschen. Sie gehen davon aus, das die Deutschen rassistisch sind.

Und was machen nun die Erzieherinnen mit den Informationen? In der Abschlussrunde werden konkrete Lösungsansätze entworfen. „Wenn ein türkisches Kind kein Schweinefleisch isst, kann man mit den Kindern die muslimische Kultur thematisieren“, schlägt eine Frau vor. Neben dem situativen Ansatz gibt es Ideen, besseren Kontakt zu den Müttern zu finden. Viele türkische Mütter scheuen die Elternabende, weil sie nicht gut Deutsch sprechen oder nicht alphabetisiert sind. Da müssten Einzelgespräche und kleine Gruppen angeboten werden, meint eine Erzieherin. Slever Kalay von der RAA Bergisch Gladbach betont: „Denken Sie daran, es sind die Mütter, die Jungen und Mädchen erziehen.“ Und das Beispiel von Nuray habe gezeigt: Gerade die Mütter unterstützen ihre Kinder beim Prozess zur Autonomie.

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