: Die vatikanische Marktlücke
Die Hälfte aller Jugendlichen hat bereits ein eigenes Handy. Nach Weihnachten werden es noch viel, viel mehr sein, und das ist gut so. Denn Mobiltelefone sind nicht nur cool. Sie stiften auch, christlich höchst erbaulich, seligen Familienfrieden. Und lassen sich später sogar zu Christbaumkugeln und Lametta weiterverarbeiten
von KARSTEN NEUSCHWENDER
Nachdem sich die Christenkinder am Heiligen Abend bekreuzigt, den armen Hungerleidern in aller Welt ein Gebet gewidmet und andächtig ihr Bäuchlein gefüllt haben, entscheidet eine einzige Frage darüber, ob die schöne Bescherung wörtlich zu nehmen ist. Die Frage, ob es den Netzanbietern gelungen ist, die vielen neuen Handys rechtzeitig freizuschalten. Wenn nicht, droht nämlich innerfamiliärer Kommunikationszwang. Das heißt, dass spätestens nach dem Verdauungsschnaps der Familienstreit aus dem letzten Jahr neu aufgelegt wird. Mit fürchterlich alltäglichem Ergebnis: Mama flüchtet weinend ins Bett, Papa trinkt vorm Fernseher die Flasche aus, und der pubertierende Nachwuchs dreht trotzig in seinem Zimmer die Stereoanlage auf.
Doch funktioniert das Mobiltelefon, wird Weihnachten zu einer heimeligen Idylle. Das liebe Kindchen kann mit handybestückten Mitschülern telefonieren, um durchzusagen: „Ich gehöre jetzt wieder dazu, lasst uns meinen neusten Pickel diskutieren.“ Und Mama und Papa plaudern neben dem Weihnachtsbaum über den pädagogischen Sinn ihres Geschenks, dem sie lange skeptisch gegenüberstanden. Familie in christlicher Einheit. Angesichts dieses als geistig-moralisch wertvoll einzuschätzenden Effektes wundert es, dass der Vatikan noch keine Handyfabrik besitzt.
Das Geschäft machen andere. Nokia, Ericsson, Motorola, Mannesmann oder die Telekom beispielsweise. Die fokussiert ihren Blick zunehmend auf die Zielgruppe Jugend, bei der mittlerweile Handys beliebter als Computer sind. „46 Prozent der Jugendlichen geben an, einen eigenen Computer zu besitzen, die Zahl der eigenen Handys liegt mit 49 Prozent noch darüber“, weist die Studie „Jim 2000“ nach. Das Forschungsinstitut Enigma hatte von Mai bis Juni 2000 rund 1.200 Jugendliche befragt. Während die Zahl der Computerbesitzer im Vergleich zum Vorjahr (42 Prozent) nur geringfügig angestiegen ist, haben sich Mobiltelefone unter Jugendlichen explosionsartig ausgebreitet.
1999 besaßen gerade mal vierzehn Prozent der Jugendlichen ein Handy. Das ist Vergangenheit. „Bereits jeder vierte Zwölf- bis Dreizehnjährige ist mit einem Mobiltelefon ausgestattet, bei den Achtzehn- bis Neunzehnjährigen sind es schon 65 Prozent“, ermittelte die Studie im Sommer. Nach Weihnachten werden diese Zahlen lächerlich gering erscheinen. Insgesamt rechnet die Branche dann mit landesweit 48 Millionen Handynutzern. Die Zahl der Mobiltelefone soll nächstes Jahr die Zahl der Festnetzanschlüsse übersteigen. Jugendliche ohne Handy werden leicht zu Außenseitern. Sofern sie das nicht durch Selbstbewusstsein, Designerklamotten oder andere Statussymbole ausgleichen.
Klar, denn wer ein Handy hat, ist groß und cool. Unvergessen die ersten großen Szenen der Handypopkultur, in denen ein krawattierter Mensch in feinem Stoff aus dem Flugzeug in den Zubringerbus stieg, sein Mobiltelefon einschaltete und bei seiner Sektretärin bedeutend nachfragte: „Ich bin gerade mit der Maschine aus Singapur gelandet, haben Sie die Unterlagen schon auf meinen Schreibtisch gelegt?“ Die nächste Etappe des kulturellen Höhenflugs der „Telefonieren Sie doch, wo Sie wollen“-Gesellschaft ließ nicht lange auf sich warten. „Schatz, soll ich jetzt Saumagen mitbringen oder lieber die Hausmacher Leberwurst?“, fragte manch ein Sparkassenangestellter im sportiven Sakko vor der Fleischtheke des mittelstädtischen Edeka-Markts. Dann wurde das Handy zum Massenphänomen. Alle hatten es – bis auf die Kinder und Jugendlichen. Für sie war es eine der letzten Bastionen, die auf dem Weg zum Erwachsenwerden gestürmt werden konnten. Gute Argumente waren schnell zur Hand.
Wenn in ein paar Tagen das Liedchen „O Tannenbaum“ nicht mehr gesungen, sondern vom frisch ausgepackten Mobiltelefon gefiept wird, sagt Mama zu Papa: „Jetzt können wir immer telefonisch bei unserem Kind nachfragen, wo es gerade ist.“ Und Papa antwortet: „Und falls es mal Schwierigkeiten geben sollte, kann unser Kind immer gleich Hilfe rufen.“ Das ist schön. Und das macht das Kind dann auch, etwa auf Klassenfahrten, wo Handys derzeit zum gruppendynamischen Problem werden, wie die Vorsitzende des Bundeselternrats, Renate Hendricks, berichtet. Dem Jugendlichen passt etwas nicht, sofort aktiviert er sein Mobiltelefon, und flugs steht Papa auf der Matte. Für die Gemeinschaft und die Pädagogik sei das katastrophal, meint Hendricks und fordert, Schulen müssten „handyfreie Zonen“ sein.
Für Eltern hingegen bringt das Handy die größte Portion Freiheit seit der Erfindung der Kleinfamilie. Auch ohne Oma oder andere Babysitter können sie sich nun unbesorgt im Restaurant um die Ecke vergnügen – es gibt Kinderhandys, die auf eine Nummer programmierbar sind und auch schon von den Kleinsten bedient werden können. Die Größeren lernen, mit ihrem Geld zu haushalten. Die beliebtesten Einsteigermodelle sind Handys mit Geldkarte. Sie werden mit einem bestimmten Betrag geladen. Ist dieser aufgebraucht, ist mit dem Telefonieren Schluss. Damit ist das Konto der Eltern in der stressfreien Zone. Durchschnittlich 48 Mark vertelefonieren die Jugendlichen laut Enigma-Studie monatlich. Für die Kosten kommen die Jugendlichen nach eigenen Angaben zu 78 Prozent selbst auf. Eine derartige finanzielle Belastung stellt manch einen Youngster vor eine pädagogisch wertvolle Entscheidung: Handy oder Fluppen?
Zumindest die Verfasser einer britischen Studie halten es für möglich, dass Mobiltelefone Jugendliche vom Rauchen abhalten. Ein britisches College stellt fleißigen Studenten Handys als Belohnung für gute Leistungen in Aussicht. Wenn sich das Modell herumspricht, könnte es auch in Deutschland Schule machen. Und für jede gute Note gibt’s dann ein Zubehörteil extra.
Neue Klingelzeichen, coole Oberschalen, Täschchen oder Handyhalfter für den Gürtel gaukeln vor, dass das Handy kein schnöder Massenkonsum von der Stange ist, sondern eine individuelle Lifestyleaussage. Sage mir, wie du telefonierst, und ich sage dir, was für ein Mensch du bist. Die Antwort der Industrie ist natürlich immer: ein guter.
Dafür zahlt sie. Mit der Botschaft, Handymenschen seien soziale Gemeinschaftswesen, die an einer besseren Zukunft arbeiten, positionieren sich Firmen wie Nokia oder Mannesmann bei der Jugend. Zusammen mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) startet Nokia demnächst das Programm „Big Friends for Youngsters“. Dabei sollen generationen- und familienübergreifende Patenschaften zwischen Kindern und Erwachsenen initiiert werden. Ziel sei es, „Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu verantwortungsbewussten Menschen zu unterstützen und sie in dem Gefühl erwachsen werden zu lassen: Man hört dir zu und ist für dich da“, vermelden die beiden Organisatoren. Prominenteste Patin ist Nena. Sie wolle „richtig Zeit mit ihrem Patenkind verbringen“, sagt eine Sprecherin der DKJS.
Unter Schirmherrschaft der Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf regen Mannesmann und die Straßenkinderhilfsorganisation „Off-Road-Kids“ Lehrer und Schüler zum solidarischen Umgang mit Klassenkameraden in Problemsituationen an. Bevor diese abrutschen und auf der Straße landen. Das bedeutet vor allem eins: Beziehungsarbeit, die Zeit und Energie kostet. Aber wer sich nicht mehr in der Familie streitet, gewinnt Kraft und Muße und hat Kapazitäten frei, ein nicht nur telefonisch kommunizierender Gutmensch zu werden. Ob sich der Vatikan wirklich nicht am Handymarkt beteiligt? Man kann Mobiltelefone auch so programmieren, dass sie einen Anruf mit folgender Melodie anmelden: „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!“ Musikalische Verkündigung und friedvolle Familie auf einen Streich. Bislang leiden vor allem die schnöden Festnetztelefonierer am Christfest. Und deren handylose Kinder.
„Wir sind immer froh, wenn wir Weihnachten ohne größere Scherereien überstehen“, sagte eine Grundschülerin der Zeitschrift Eltern im November. Das Blatt hatte 1.858 Schüler zwischen acht und siebzehn Jahren zum Thema Weihnachten befragt. Über die Hälfte der Befragten erlebt Weihnachten nicht als Fest des Friedens, sondern als Fest der schlechten Laune und des Krachs. Eine Zwölfjährige erzählte, dass ihre Familie jedes Jahr in Streit darüber gerate, ob der Christbaum gerade stehe.
Hält der Handyboom an, könnte es demnächst auch Streit darüber geben, was man mit den altgedienten Handys macht. Derzeit überschlagen sich ja die technischen Neuerungen, die jeden, der mit einem Handy der Vorgängergeneration telefoniert, ins gesellschaftliche Abseits katapultieren. Laut Gerüchten sind manche jugendliche Mobiltelefonjunkies schon beim dritten oder vierten Modell angekommen – der alte Besitz ist imagetechnisch nicht mehr tragbar. Ihn wegzuwerfen wäre die einfachste Lösung. Aber da der Handyboom ja nun mal ein echt weihnachtliches Phänomen ist, gibt es auch einen echt weihnachtlichen Entsorgungstipp: Das Handy kann man wie die alten Christbäume sozusagen kompostieren.
Dazu muss es nur zu Pulver gemahlen werden. Aus diesem Elektronikstaub können, so haben Wissenschaftler der Unversität Zürich nachgewiesen, Metalle wie Kupfer, Aluminium, Nickel, Cadmium oder Silber zurückgewonnen werden – mit Hilfe von Pilzen und Bakterien. Versetzt man den Elektrostaub mit diesen Kleinorganismen, entstehen Säuren, die die Metalle aus dem Pulver lösen. Der Pilz Penicillium simplicissimum beispielsweise mobilisiert Nickel und Zink. Schwefelbakterien stehen auf Kupfer und Aluminium – Metalle, die in der Christbaumschmuckindustrie ständig gebraucht werden.
KARSTEN NEUSCHWENDER, 30, lebt als Journalist in Saarbrücken. Nachdem der weihnachtliche Kneipenauftritt seines Jazzseptetts geplatzt ist, widmet er sich an diesen Tagen den geistvollen Dingen ganz und gar privat
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen