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Geheimzirkel gab den Ausschlag

Bisher unveröffentlichte „Tianamen-Papiere“ zeigen, wie knapp 1989 die Entscheidung zum Einsatz der Armee gegen die Demokratiebewegung war

von SVEN HANSEN

Zwei gegen zwei bei einer Enthaltung. Dies waren die Mehrheitsverhältnisse im Ständigen Ausschuss des Politbüros der chinesischen KP im Frühjahr 1989, als es um die Frage des Einsatzes der Armee gegen die Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz ging. Der greise Machhaber Deng Xiaoping, damals formal Vorsitzender der Militärkommission, und andere altgediente Parteigrößen ohne formale Ämter gaben dann in einer geheimen parallelen Machtstruktur den Ausschlag im Kampf zwischen dem reformorientierten Parteichef Zhao Ziyang und dem Hardliner und damaligen Premier Li Peng.

Der Protest der Studenten hatte Mitte April begonnen und im ganzen Land Schule gemacht. Die Demonstranten forderten gesellschaftliche Reformen und Demokratisierung. Mitte Mai begannen tausende einen Hungerstreik auf dem Platz. Am 4. Juni schließlich ließen die Machthaber die Panzer rollen. Es kam zu Barrikadenkämpfen, rücksichtslosen Schießereien von Militärs und Lynchmorden an Soldaten. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Toten auf hunderte, wenn nicht tausende.

Die Grundpositionen der damaligen Führer sind längst bekannt. Doch erstmals werden die Entscheidungsabläufe im Führungszirkel jetzt detailliert von parteiinternen Geheimpapieren dokumentiert. Sie machen deutlich, wie knapp die Entscheidung war und dass sie unter Umgehung offizieller Strukturen stattfand. Die Dokumente wurden am Wochenende auszugsweise in US-Medien veröffentlicht. Die so genannten „Tiananmen-Papiere“, die heute als Buch erscheinen, enthalten Notizen von Sitzungen des Ständigen Ausschusses des Politbüros (des obersten Machtorgans), von Treffen in Deng Xiaopings Privathaus und sogar von Mitschriften von Telefongesprächen Dengs.

Die Papiere schmuggelte ein KP-Mitglied mit dem Pseudonym Zhang Liang in die USA. Die US-Wissenschaftler Andrew J. Nathan (New York), Perry Link (Princeton) und Orville Schell (Berkeley) haben die Authentizität der Dokumente geprüft. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es „überzeugende Gründe für die Annahme ihrer Glaubwürdigkeit gibt“. Wie der Politikprofessor Nathan im Magazin Foreign Affairs schreibt, könne es jedoch keine absolute Sicherheit geben angesichts der „geheimen und verschlossenen Natur des chinesischen Regimes“. Die New York Times weist darauf hin, dass es sich nur um Computerausdrucke handelt und die Papiere wohl redigiert wurden.

Sie geben den damaligen Ereignissen Gesichter und Stimmen. Laut Nathan zeigen die Dokumente dreierlei: Erstens wäre ohne Eingreifen des geheimen Zirkels der Parteigreise keine Entscheidung zum Einsatz der Armee gefallen, sondern weiter auf Dialog gesetzt worden. Zweitens ist der heutige Staats- und Parteichef Jiang Zemin unter Bruch der Verfassung von diesem Geheimzirkel in die oberste Machtposition gehievt worden. Und drittens wird deutlich, wie Li Peng Informationen manipulierte, um die Proteste als persönliche Angriffe gegen Deng und die anderen Greise darzustellen. Zudem habe sich Li der Geheimdienste bedient, um liberale KP-Kader und Intellektuelle aus dem Weg zu räumen.

Der damalige US-Botschafter in Peking, James R. Lilley, der die Papiere gesehen hat, hält sie im Wesentlichen für authentisch. Er vergleicht die Dokumente mit den so genannten Pentagon-Papieren, die Anfang der 70er-Jahre Regierungsinterna über den Weg der USA in den Vietnamkrieg dokumentierten. „Man wusste von den Täuschungen, aber plötzlich sieht man, was die Leute gesagt haben, und es wird sehr aufschlussreich.“

Chinas Führung hat sich bisher nicht zu den Papieren geäußert.

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