: Richtiges Leben im falschen
aus Frankfurt am Main HEIDE PLATEN und JENS KÖNIG
Joschka Fischer marschiert am Ende seiner Vernehmung energisch durch den Saal 165 C des Frankfurter Landgerichts. Der Außenminister steuert auf den Exterroristen, den Angeklagten Hans-Joachim Klein zu und drückt ihm die Hand. Die sich da begegnen, sind durch Welten getrennt. Der des Opec-Attentats 1975 in Wien und des Mordes an drei Menschen angeklagte Hans-Joachim Klein wirkt über so viel Zuwendung fast verdutzt, schreckt für Sekunden aus seiner so zum Erbarmen elend wirkenden Lethargie auf, nickt fast verlegen. Fischer lächelt, versucht, Wärme in den Händedruck zu legen. Wendet sich erst ab, als die Reaktion ausbleibt. Der Zeuge verlässt den Saal zu anderen Geschäften. Der Angeklagte wird in Handschellen abgeführt.
Vor dem Gerichtsgebäude kämpfen die Journalisten in diesem Moment zum letzten Mal gegeneinander. Sie drängeln und schieben und treten. Fischer wird herauskommen, und sie werden die letzten Bilder dieses Tages machen. Wenigstens einmal noch werden sie Joschka Fischer filmen können, den Hauptdarsteller der heutigen Vorstellung. Ansonsten sind sie ausschließlich auf Fischers Worte angewiesen. So verlangt es die Dramaturgie des Tages, weil Kameras im Gerichtssaal nicht zugelassen sind. Fischers öffentliche Vergangenheitsbewältigung erfährt auf diese Weise eine bizarre Pointe: Ein paar Fotos aus dem Jahre 1973 haben die ganze Aufregung ausgelöst, und heute, auf ihrem Höhepunkt, muss sie fast ganz ohne Bilder auskommen.
Fischer ganz milde gestimmt
So ist es fast zwangsläufig, dass die Journalisten, die draußen stundenlang in der Kälte ausharren, sich vornehmlich mit sich selbst beschäftigen. Niklas Luhmann hätte seine wahre Freude daran gehabt. Der Altmeister der Systemtheorie wusste schon vor über zehn Jahren, dass alles, was wir wissen, wir nur aus den Medien wissen. Daran halten sich auch die Medien selbst. So filmen die Journalisten vor dem Gerichtsgebäude Journalisten beim Filmen. Die ganz Cleveren unter ihnen filmen Journalisten, die Journalisten filmen, die Journalisten filmen. Die Polizisten gucken dabei zu. Was sollen sie auch sonst tun? Von den angekündigten Demonstranten ist weit und breit keiner zu sehen.
Nur ein paar junge Männer von der Jungen Union Frankfurt verteilen schüchtern kleine Zettel, auf denen zwei Fotos abgedruckt sind: eines, auf dem deutsche Hooligans während der Fußball-WM 1978 den französischen Polizisten David Nivel brutal zusammenschlagen, und eines, auf dem Joschka Fischer 1973 den Frankfurter Polizisten Rainer Marx verprügelt. „Rätselfreunde aufgepasst!“, steht auf dem Zettel. „Bei diesen beiden Bildern sind ein paar kleine Unterschiede versteckt.“ Aber auch Rätselfreunde sind an diesem Vormittag nicht zu sehen.
Der Fernsehreporter von Phoenix hat für solche Späße keine Zeit und längst auch keine Nerven mehr. Seit sechs Uhr am Morgen steht er mit seinem Kamerateam hier und berichtet immer wieder live. Phoenix macht heute einen „Thementag Joschka Fischer“. Der Reporter redet stundenlang sinnloses Zeug. Bis zum Prozessbeginn gibt es nichts zu berichten, was nicht ohnehin jeder weiß. Als Joschka Fischer endlich aus dem Auto aussteigt, sagt der Reporter: „Jetzt steigt Joschka Fischer aus dem Auto aus.“ Er sagt es mit zittriger Stimme. Vor lauter Kälte kann er schon nicht mehr geradeaus sprechen. Fischer kommt auf die Journalisten zu und sagt zwei belanglose Sätze in die Kameras. „Sag doch ausnahmsweise mal die Wahrheit“, ruft ein Zuschauer dem Außenminister zu. Der lächelt nur. Fischer ist heute milde gestimmt.
Dazu hat er allen Grund. Seine Vernehmung drinnen im Gerichtssaal gerät zeitweilig zu einem Exkurs durch die Geschichte der 68er Revolte, angefangen vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bis zum Deutschen Herbst 1977, der zur Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer eskalierte. Fischer holt weit aus, schildert Hass, Angst und Ohnmachtsgefühle einer jungen Generation gegenüber der älteren. Er selbst und seine damalige Frau seien Ostern 1968 von der Polizei „richtig windelweich gehauen worden“. Die Übermacht von Staatsmacht und Polizei habe damals gegen das Bedürfnis nach einem anderen, freien Leben gestanden. Die Devise sei schon gewesen, gemeinsam zu kämpfen, vor allem aber, gemeinsam zu leben, in besetzten Häusern, auf befreiten Gebieten.
Fischer zitiert weit ausholend den Philosophen Theodor W. Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Der eher anarchosyndikalistische als kommunistische Revolutionäre Kampf (RK), der sich ab 1973 in den Spontis auflöste, habe das Zitat für sich abgewandelt: „Wir wollten das richtige Leben im falschen führen.“ Viel Emotion sei dabei gewesen. Über die Aufhebung von Eigentum und Hierarchie, über gemeinsame Kassen, über die Emanzipation der Frauen und das Verhältnis zur Gewalt sei in den Wohngemeinschaften, in Kneipen, in den Beziehungen untereinander „endlos geredet“ worden: „1968, das war eine Freiheitsrevolte!“ Und: „Wir waren Revolutionäre!“ Die Gewalt auf der Straße sei damals eher politisches Mittel zum Zweck gewesen, eher auf Solidarisierungseffekte als auf militärischen Sieg ausgerichtet: „Wir hätten ein Haus nicht einen Tag lang halten können.“ Wirklich gefährliche Waffen seien in seiner Szene nie benutzt worden. Niemals habe man jemanden töten oder auch nur verletzen wollen. Wenn er heute lese, sagt Fischer, dass diese Zeit „irgendwo zwischen Faschismus und Neonazis“ eingeordnet werde, „dann kriege ich solch einen Hals“.
Vorsitzender Richter Heinrich Gehrke ermuntert den Minister: „Lassen Sie das ruhig hier raus!“ Er lässt der Erinnerungsarbeit Fischers weiten Raum, hat aber sichtlich Mühe, Neues über den Charakter des Angeklagten und die Umstände zu erfahren, unter denen Klein vom spontanistischen Häuser- und Straßenkämpfer zum bewaffneten Terroristen geworden sein könnte. Er sei, so Fischer, entsetzt gewesen, als er Kleins Bild nach dem Opec-Attentat in der Zeitung gesehen habe: „Wie kommt der denn zu denen?“ Kleins Phase der Abwendung von ihm und seinen Freunden und die Hinwendung zu den Revolutionären Zellen (RZ), so Fischer, sei ihm schlicht entgangen.
„Den Jochen hab ich gemocht“
Das werfe er sich heute noch vor: „Das hat mich damals nicht kalt gelassen, das lässt mich, verdammt noch mal, heute nicht kalt“: „Den Jochen hab ich gemocht als Mensch, wir alle.“ Man habe gewusst, dass er es in seiner Kindheit schwer gehabt habe, kein Intellektueller war, ihm seine „Aufschneiderei“ deshalb nachgesehen, weil er eben „nicht derjenige war, der in der Lage war, wirklich mitzudiskutieren“. Ob Klein besonders aggressiv gewesen sei? Fischer ist zurückhaltend: „Er war ohne Zweifel jemand, der bei Aktionen dabei war.“ Klein sei „kein Scharfmacher“ gewesen. So eng aber wie zu anderen sei seine Beziehung zu Klein nicht gewesen: „Wir haben nicht zusammen gewohnt.“ Von Kleins Faible für Waffen habe er nichts gewusst.
Joschka Fischer erinnert sich nicht mehr daran, wann und wie er Klein Anfang der 70er-Jahre kennen lernte. Dass Klein, ebenso wie er selbst, bei der Putzgruppe des RK dabei war, bestätigt er zum wiederholten Male. Er erinnere sich allerdings nur noch an wenige einzelne, gemeinsame Aktionen. Einmal habe „der Jochen“ sie bei einem Angriff türkischer Faschisten geschützt. Bei einer der härtesten Demonstrationen der Frankfurter Stadtgeschichte 1974 sei es Klein gewesen, der ihm geholfen habe, den verletzten Günther Sare vor der Polizei in Sicherheit zu tragen: „Jener Günther Sare, der später von einem Wasserwerfer überrollt wurde.“
„Individualistische Entscheidung“
Angesprochen auf die seit zwei Wochen kursierenden FAZ-Fotos, schließt Fischer wiederum nicht aus, der Mann mit dem schwarzen Helm zu sein, der sich einem Polizisten entgegenstellt. Damals habe die Polizei einzelne Demonstranten verfolgt. Der Beamte sei hinter Leuten hergerannt. Er selbst sei der Auslöser der Szene gewesen, weil er spontan beschlossen habe, es in „individualistischer Entscheidung“ mit dem Gegner aufzunehmen. Andere seien ihm zu Hilfe geeilt.
Ob Fischer damals wirklich so eine „zentrale Figur“ gewesen sei, wie er es dem Spiegel gegenüber gesagt habe, fragt Gehrke beharrlich nach. Na ja, da muss der Außenminister zugeben, dass auch er wohl ein wenig aufgeschnitten hat. Das aber sei ihm lieber, als einer zu sein, der von seiner Vergangenheit nichts mehr wissen wolle. Nein, ein „Häuptling“ sei er nicht gewesen: „Wir waren extrem antiautoritär.“
Vorhalte des Staatsanwalts Volker Rath qualifizierte Fischer gestern verärgert: „Völliger Quatsch!“ Nein, in seiner und Daniel Cohn-Bendits Wohnung haben nie Terroristen kampiert, auch nicht die als „Banklady“ bekannt gewordene Margit Schiller. Nein, Sozialarbeiter sei er damals zwar auch nicht gerade gewesen, habe aber nie dem Molotowcocktail-Werfen das Wort geredet, auch keine Waffen gelagert. Dies alles, maßregelte Vorsitzende Gehrke den eifrigen Ankläger, gehöre ohnehin nicht zur Sache im Prozess gegen Klein. Fischer holt noch einmal zum Exkurs aus, ehe er sich artig verabschiedet. Nichts Neues, Handschlag für Klein und ab durch die Menge, kein allzu schwerer Gang. Fischer ist milde gestimmt.
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