: Investment in die Zukunft
Ein Anlagetipp ist wohl sicher: Die Branche der dezentralen und regenerativen Energieerzeuger wird gewaltig wachsen. Konzerne stellen sich darauf ein und basteln an ihren Unternehmensstrukturen
Es ist eine Binsenweisheit: Großkraftwerke decken bisher mehr als 80 Prozent des gesamten Strombedarfs in Deutschland. Die Sache hat zwei gravierende Nachteile. Der gewonnene Strom muss über längere Strecken transportiert werden als bei kleinen Anlagen, die näher am Verbraucher gebaut werden. Dadurch geht ein großer Teil der Energie unterwegs verloren. Außerdem ist der Wirkungsgrad großer Stromfabriken geringer, es muss mehr Primärenergie – also Öl, Gas, Kohle oder Uran – eingesetzt werden, um die gleiche Energieleistung zu erzielen.
Mit zentral gesteuerten atomaren und fossilen Kraftwerken hat sich die Stromwirtschaft eine energetisch wenig effiziente Struktur geschaffen. Zwei Drittel der eingesetzten Brennstoffe lösen sich als Abwärme in heißer Luft auf. Die ganze Struktur des Energiebereichs ist auf Megakraftwerke zugeschnitten und nicht auf die Bedürfnisse einer rationellen und ökologisch verträglichen Energieanwendung.
Doch das soll sich in den kommenden Jahren ändern, so jedenfalls die Vorstellungen der Manager des ABB-Konzerns in Zürich. „Wir setzen auf eine dezentrale und erneuerbare Energieversorgung“, erklärt Georg Schett, bei ABB verantwortlich für den Bereich Energieübertragung und -verteilung. In der Schweizer Konzernzentrale werden seit gut einem halben Jahr Unternehmensziele formuliert, wie man sie bisher nur von Greenpeace, dem WWF und aus der Solarszene kannte. Die durch die Liberalisierung der Energiemärkte anstehenden Veränderungen vergleicht die ABB-Spitze mit der Privatisierung des Telekommunikationsmarktes. „Die Rolle der Mobiltelefone übernehmen in der Welt der Energie kleine dezentrale Energiequellen wie Brennstoffzellen, Mikroturbinen, Solarkraftwerke oder Windgeneratoren, die sauber, sicher und zweckmäßig sind“, ist ABB-Mann Schett sicher.
ABB liefert derzeit bereits für ein Viertel aller weltweit installierten Windturbinen elektrotechnische Komponenten. Ab Sommer 2001 will der Konzern in Schweden seine erste Windkraftanlage mit einer technischen Leistung von satten 3,5 Megawatt (MW) testen. Außerdem will das Unternehmen Blockheizkraftwerke in einem Leistungsbereich von bis zu zehn MW bauen. Hinzu kommt eine Palette neu entwickelter Mikrogasturbinen mit einer Leistung von 25 bis 500 Kilowatt (kW). Und zum guten Schluss hat ABB durch eine Kooperation mit DuPont in den USA die Entwicklung einer neuen Generation von Brennstoffzellen vorangetrieben.
Frei nach dem Motto: „Kleinvieh macht auch Mist – es kommt nur auf die Menge an“, will ABB regenerative Energiequellen und dezentrale Anlagen mit modernster IT-Technologie zu virtuellen Versorgungseinheiten – sprich Cyber-Kraftwerken – zusammenfassen. Solche kleinen Netzverbünde mit einer Leistung um zehn MW können in noch nicht erschlossenen Regionen eigenständige Inseln bilden oder mit dem Übertragungsnetz verbunden werden. Intelligente Elemente aus Leistungselektronik und schnellen Steuerungen sorgen via Internet für die Sicherstellung der Versorgungsqualität. Klar ist, mit der spürbaren Zunahme von dezentralen Anlagen ändert sich der gesamte Charakter der altbekannten Energieversorgungsstruktur – zumindest langfristig.
Eine parallele Entwicklung gab es bereits bei der Computertechnologie. Große zentrale Rechner steuerten die Datenverarbeitung in den 60er-Jahren. Heute wird der Datenfluss über vernetzte kleine PCs und handliche Notebooks in großen Unternehmen organisiert. „Ähnlich werden die Veränderungen auch bei der Stromerzeugung ablaufen“, meint ABB-Techniker Schett. Es gehe letztlich darum, die Energiebereitstellung und -speicherung möglichst nahe zum Verbrauchsort zu verlagern, und zwar mit höherem Wirkungsgrad und möglichst geringer Umweltbelastung. „Mit Hilfe moderner Kommunikations- und Regelungstechnik lassen sich solche Systeme wie ein einziges Kraftwerk betreiben“, heißt es bei ABB. Im Klartext: Das virtuelle Versorgungsunternehmens vernetzt räumlich verteilte dezentrale Stromerzeugungssysteme, die viele Kunden an verschiedensten Standorten so versorgen, als wären sie an ein zentrales System angeschlossen. Der Vorteil: Der Betreiber eines virtuellen Versorgungsunternehmens – nennen wir ihn einfach Betreiber AG – kann die Qualität der Stromversorgung und die Rentabilität des Betriebs nach Ansicht von ABB gewährleisten, indem er die dezentralen Versorgungseinheiten flexibel betreibt und deren Leistung geschickt ins Mikronetz einspeist.
Intern verfolgt ABB das Konzept unter dem Namen „Electrons on Line“ (EOL) weiter. „EOL ist ein Dienstleister mit umfangreichen Automatisierungssystemen, die es den Kunden erlauben, verschiedene Anlagen im Rahmen der dezentralen Stromerzeugung zu überwachen und zu führen“, erklärt ABB-Netzexperte Terry Jones. Die gesamte Kommunikation erfolgt über das Internet, und die Datenbank liegt auf dem EOL-Web-Server.
Aus der Sicht des Züricher Konzernstrategen spricht einiges für die dezentrale virtuelle Energieversorgung von morgen: Kleine Anlagen lassen sich schneller errichten als Kohle- oder Gaskraftwerke. Der Strom kostet umso weniger, je näher der Verbraucher an der Energiequelle sitzt. Bei dezentraler Erzeugung befindet er sich unmittelbar an der Energiequelle, und es entstehen keine Übertragungsverluste. Das virtuelle Versorgungsunternehmen stellt eine einheitliche Struktur via Internet bereit, innerhalb derer ein dezentrales Stromerzeugungssystem arbeiten kann.
Vor allem seit dem kräftigen Ausbau der Windenergie in Deutschland machen sich immer mehr Konzerne Gedanken darüber, wie sie sich noch in das Geschäft mit den dezentralen Öko-Energiequellen einklinken können. Neben ABB hat auch Siemens das enorme Wachstumspotenzial der dezentralen Anlagentechnik entdeckt. „Intelligente dezentrale Energieversorgungssysteme sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich im Energiebereich weiteres Optimierungspotenzial erschließen lässt“, weiß Rainer Bitsch, Leiter des Geschäftsbereichs Dezentrale Energieversorgungssysteme bei Siemens in Erlangen. Für ihn ist klar, dass mit einem „ganzheitlichen Energiemanagement-Zentrum“ dezentrale Stromquellen optimal koordiniert werden können.
Fakt ist: Mit moderner IT-Technologie lässt sich der Ausbau dezentraler regenerativer Anlagen zu virtuellen Versorgern realisieren. Bleibt nur die Frage, wer das Geschäft macht: die großen Konzerne oder die ambitionierten Betreibergesellschaften von Bürgerwindparks?
MICHAEL FRANKEN
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