: Was der Katastrophe folgt
Touristen besichtigen Ruinen, ein Scheich verschenkt Vollblutpferde, Bauherren tauchen unter: Der Wideraufbau in Ahmedabad hat viele Tücken
aus Ahmedabad ASHWIN RAMAN
Mit vielem sind die Menschen in Gujarat fertig geworden: Mit fremden Helfern, korrupten Bauherren, Erdbebentouristen und Erdbebenvorhersagern. Aber mit Scheich Muchtar-bin-al-Nasser-Lutah-al-Chajjam aus Dubai hatten sie einige Mühe. Er spendete ihnen 80 reinrassige arabische Pferde. Nun sind die Gujaratis nie ein Volk gewesen, das einem geschenkten Gaul ins Maul geschaut hätte. Komitees wurden gegründet, um festzustellen, was mit den Pferden anzufangen wäre. Vermutlich ist der Vorschlag eines Hochzeitsunternehmers am vernünftigsten. Seine Vision von einem Bräutigam mit Schwert und Turban, der auf einem gemieteten Vollblutpferd seine Braut abholt, hat großen Anklang gefunden.
Dies war das Gesprächsthema, als ich Mitte März in Ahmedabad landete. Wie immer war meine Schwester am Flughafen, um mich zu empfangen. Dies ist sehr angenehm, aber vor allem erlaubt mir ihre Fahrkunst, mich auf meine Heimatstadt einzustimmen. Auf dem Weg zu ihrem Auto kamen wir an einem großen Frachtlager voller ausländischer Hilfsgüter vorbei. Ich fragte, warum die Güter herumlägen. „Weiß der Geier warum. Vielleicht haben sie keine Lust, die Sachen zu verteilen. Sie werden sowieso geklaut oder später illegal verkauft. Meinst du etwa, dass wir auf Regierungshilfe angewiesen sind? Alle helfen sich hier gegenseitig“, antwortete sie.
„Stell dich nicht so an!“
Wir erreichten die Shatrunjay Towers. Dort wohnt sie in der neunten Etage. Am 26. Januar wurde dieses Gebäude stark beschädigt. Mittlerweile ist das Mauerwerk verstärkt. Nach und nach kamen die Bewohner zurück aus ihren provisorischen Unterkünften. Als ich vorsichtig fragte, ob es vernünftig sei, so ein Gebäude wieder zu beziehen, bekam ich zur Antwort: „Stell dich nicht so an. Seit dem 26. gibt es fast jeden Tag ein Nachbeben, und es ist nichts passiert. Anfangs wirst du wach, aber mit der Zeit gewöhnst du dich daran.“
Am nächsten Morgen wollte ich die Hilfsgüter nahe des Flughafens begutachten. Zu diesem Zweck nahm ich eine Rikscha. Der Zähler funktionierte nicht. Also, wie viel zum Flughafen? 50 Rupien, sagt der Fahrer. Ich bot ihm 40. „Steigen Sie ein. Zwei Kunden am Tag wie Sie, und meine Kinder können betteln gehen. Übrigens heiße ich Bhogilal“, sagte er und zog los.
Am Flughafen traf ich Mr. Gopalkrishnan von der Airport Authority of India. Im Lager warteten Wolldecken aus Pakistan, Zelte aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, Plastiktüten aus Indonesien, Bekleidung, Milchpulver und Kekse aus den USA und England, Medikamente aus Deutschland, teilweise haltbar bis April. Auf die Frage, warum diese Hilfsgüter noch nicht verteilt wurden, sagte Mr. Gopalkrishnan: „Das müssen Sie Mr. M. S. Dagur, den Koordinator für die Verteilung der Hilfsgüter bei der Landesregierung, fragen.“
Wieder ging es mit Bhogilal quer durch Ahmedabad, zum Regierungssitz. An der Rezeption fragte ich nach Mr. M. S. Dagur. „Wir haben keinen Dagur, Bagur hier“ sagte die Dame. Wieso? Er ist doch zuständig für die Hilfsgüter der Erdbebenopfer. „Sagen Sie doch gleich Erdbeben. Gebäude 5, Sektion 2, 3. Etage, Zimmer 300.“ Dort begegnete mir ein Mr. S. K. Nanda. Er sagte: „Mr. Dagur haben wir vor vier Tagen zum letzten Mal hier gesehen. Ich bin nur zuständig für die vom Erdbeben beschädigten Gebäude Ahmedabads.“ Gut, dass ich Sie treffe, wie viele Gebäude sind beschädigt? Mr. Nanda: „Alle Hochhäuser sind betroffen. Wir haben die Fahndung nach den Bauherrn bereits eingeleitet. Sobald dies abgeschlossen ist, werden wir geeignete Maßnahmen ergreifen.“
Über die Art der Maßnahmen konnte er mir nichts sagen. Gnädigerweise leitete er mich an einen Mr. C. K. Koshy weiter. Dieser Herr war zwar nicht für die Verteilung der Hilfsgüter zuständig, aber er führte Buch über Eingang und Ausgang der Waren. Herr Koshy sagte: „Es gibt keine Hilfsgüter am Flughafen. Sobald eine Fracht ankommt, wird sie an Bedürftige verteilt.“ – „Aber Mr. Koshy, ich komme gerade vom Flughafen.“ Als ich Bhogilal dies erzählte, sagte er: „Was erwarten Sie von diesen Hurensöhnen? Steigen Sie ein, ich zeige Ihnen, wo wirklich geholfen wird.“
Er führte mich zum Visamo, einem Zeltlager auf dem Gelände der Universität, errichtet für 200 Familien. Es war 13 Uhr. Eine fast zwei Kilometer lange Schlange stand bei der Essenausgabe. Frisches Hirse-Weizen-Fladenbrot, bestrichen mit Butterfett, Kartoffel-Tomaten-Gemüse, Mungbohnen, Gurken-Tomaten-Zwiebel-Salat und scharfe Mangopickles wurden ausgeteilt. Hier traf ich den 22-jährigen Studenten Rohit Dave, einen der 55 freiwilligen Helfer. Stolz führte er mich zu den Lebensmittelvorräten. Drei Zelte voller Getreide, Erdnussöl, Mehl, Zucker, Tee, Kaffee. Es gab auch ein anderes Zelt. Hier wurden Spenden gelagert, die keiner gebrauchen konnte. Röcke, auch Miniröcke, Jeans, Jacken, Stiefel, Regenzeug, Mikrowellen und elektrische Händetrockner.
Visamo ist imponierend. Ein Tageszelt für die Kinder, deren Eltern arbeiten gehen, psychologische Beratung für traumatisierte Opfer, provisorisches Krankenhaus, sogar ein Zelt, das als Bank mit Schließfächern fungiert. Abends gibt es Tanz- und Theatervorführungen.
Hier lebt auch die pensionierte Lehrerin Mrs. Kokilaben Patel. Mit ihrem Mann, Hündin Sheba und drei Welpen wohnte sie im zehnstöckigen Mansi-Complex. Das Erdbeben störte das Ehepaar in der Gebetsstunde. Sie hörten einen Riesenkrach und liefen auf die Straße, gefolgt von Sheba. Dort stellten sie fest, dass die Welpen noch in der Wohnung waren. Der Ehemann rannte die Treppen wieder hoch, wickelte die Welpen in Badetücher und warf sie in die wartende Menge. Als er die Wohnung verlassen wollte, wurde er von einstürzendem Beton tödlich erfasst. An jenem Morgen starben 48 Mansi-Bewohner.
Bauvorschriften missachtet
In Visamo hat Mrs. Kokilaben Patel eine Aktionsgruppe gegründet, um die kriminellen Bauherren vor Gericht zu bringen. Die Gruppe übt massiven Druck auf die Regierung aus und hat die Zeitungen bewegt, täglich ein Porträt solcher Bauherrn abzudrucken. So kam ans Licht, dass bei der Erteilung von Baugenehmigungen eine Verbindung zwischen den Beamten der Stadtverwaltung und den Bauherren bestand. Schlechtes Baumaterial wurde benutzt, Bauvorschriften wurden missachtet. Inzwischen sind die meisten der Bauherren untergetaucht. Die Beamten des Anti-Corruption Bureau (ACB) stellten fest, dass 39 Angestellte der Stadtverwaltung Immobilien besaßen, die weit über ihren Verdienstmöglichkeiten lagen. Sechs hohen Beamten wurde gekündigt, gegen die anderen wird ermittelt. Ingenieure des ACB fanden heraus, dass 158 Hochhäuser in Ahmedabad sofort abgerissen werden müssen. Weitere 474 Gebäude bedürfen umfangreicher Verstärkungsmaßnahmen.
Auf dem Weg nach Hause fuhren wir an der populärsten Erdbeben-Touristenattraktion Gujarats vorbei, an einem Komplex mit vier Hochhäusern namens Shikhar (Gipfel). Nur die Innenseite eines zehnstöckigen Hauses steht noch auf dem Grundstück. In einer Wohnung im siebten Stock hängt immer noch eine Wanduhr, die tickt. Auf dem Gelände liegen plattgedrückte Mofas und Autos, Gasherde, Wasserbehälter, Kleidungsstücke und Privatpapiere. Daneben ein Schild: „Shikhar Apartments, der Inbegriff für Luxus und Komfort“. 88 Menschen mussten diesen Luxus mit ihrem Leben bezahlen. Für Hari Dhige und Manoj Date war Shikar eine Reise wert. Sie kamen aus dem 650 Kilometer entfernten Pune, um Bilder zu knipsen und „Solidarität mit den leidenden Menschen“ zu zeigen.
Spätabends schleppte mich meine Schwester zu einer Freiluftbegegnung mit Shri Gurudev Viswakarmji. Der Guru sah aus, wie Gurus eben aussehen. Lange Haare, Bart, weiß bekleidet und mit einem dauerhaft aufgeklärten Grinsen. Zehntausende lauschten seinem Gerede. „In diesen schweren Stunden müssen wir zusammenhalten . . . Geld und materielle Dinge sind heute da und morgen weg . . . aber das Zwischenmenschliche bleibt.“ Nach einer Stunde nahm er Abschied. Auf dem Weg zu seinem Auto telefonierte er. Er sei bei den Erdbebenleuten, sagte er, und wolle wissen, wie die Aktien der Reliance Industry stehen und wie das Cricketspiel gegen Australien ausgegangen ist.
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