: „Hat er aber gemordet, so muss er sterben!“
Jürgen Martschukats Buch über das „Inszenierte Töten“ ist wesentlich mehr als eine strafrechts- oder kriminalitätsgeschichtliche Abhandlung. Es bietet eine facettenreiche Geschichte der Diskurse um die Todesstrafe, der Kämpfe um das Schafott und der staatlichen Praxis des Totmachens
von ULRICH BRIELER
Das Buch beginnt mit einem doppelten Paukenschlag. Am 4. Februar 1726 wird der Soldat Valentin Hobold, ein zweifacher Raubmörder, auf dem Hamburger Köpfel-Berge vom Leben zum Tode gebracht. Das Theater des Schreckens nimmt seinen traditionellen Verlauf: vom Zug zum Richtplatz über das Zertrümmen der Gliedmaßen bis zum Versickern des letzten Blutstropfens. Am 10. April 1856 wird der Drechslergeselle und zweifache Mörder Johann Arnold Wilhelm Timm seiner Strafe zugeführt. Er ist der erste Delinquent der Hamburger Stadtgeschichte, der im Hinterhof des Zuchthauses mit dem mechanischen Fallbeil exekutiert wird.
Zwischen beiden Ereignissen liegen 130 Jahre – und ein Problem. Warum hat die staatliche Praxis des Totmachens sich dergestalt gewandelt? Warum wird das staatliche Menschenopfer zunächst als ganz öffentliches Spektakel und dann als nahezu geheime Kommandosache inszeniert?
Die Fragen nach dieser privilegierten Beziehung von Staat und Todesstrafe in Jürgen Martschukats Studie „Inszeniertes Töten“ sind aktuell. Denn der Tod hat wieder Konjunktur. Im Zeitalter der Bio-Politik ist er unmerklich in das Feld des Macht-Wissens zurückgekehrt. Themen wie Sterbehilfe und neue Seuchen, Diskussionen um Organtransplantation und Hirntod, Probleme der Demographie und des Arbeitskräftebedarfs haben das Leben auf neue Weise den Bedürfnissen der Politik geöffnet. Der Tod muss daher frisch vermessen werden, um als unhintergehbare Variable in die politische Verwaltung des Lebens Eingang zu finden.
Aber war der Tod nicht immer präsent? Wartete der Sensenmann nicht überall und allerorten? War das Leben nicht endlich und der Tod der unausweichliche Schlusspfiff? Derartige Allgemeinplätze haben lange Zeit verhindert, den Tod als soziales und historisches Phänomen zu begreifen. Man hat den Tod anthropologisiert, um ihm seine historische Existenz zu rauben. Der Tod war halt da: als Verwesung des Lebens, Abfall der Schlachten, Not der Existenz.
Erst die französische Mentalitätsgeschichte hat dem Tod Namen, Adresse und Anschrift gegeben. Philippe Ariès hat mit seiner „Geschichte des Todes“ die kulturellen Deutungen und die Rituale des Übergangs zum historischen Thema gemacht. Öffentlich und ergreifend waren sie bis ins 19. Jahrhundert, verborgen und lästig wurden sie dann. Der Friedhof ist heute der am meisten gehasste Ort. Zu ihm zieht es nur die Alten, die Überflüssigen der Leistungsgesellschaft.
Ariès beobachtete die letzten Stunden des Sterbenden, den Umgang mit den Toten, die Figuren der Trauer und der Erinnerung. Weniger interessiert war er an der Rationalität des Totmachens, ihrer Praxis und Begründung. Dieser Aufgabe hat sich nun der junge Hamburger Historiker Jürgen Martschukat verschrieben. Seine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert beweist, wie eng verbunden die Praxis des staatlichen Totmachens mit den kulturellen Mustern einer Gesellschaft ist, die sich anschickt, ihre Humanität zu erfinden. In diesem Konnex liegt die große Provokation dieser Studie, die zeigt, wie sich die Praxis des legitimierten Tötens mit der Rede vom Menschlichwerden der bald bürgerlichen Gesellschaft verbindet. Von der Ambition her ist diese Arbeit daher wesentlich mehr als eine strafrechts- oder kriminalitätsgeschichtliche Abhandlung. Sie ist eine facettenreiche Geschichte der Diskurse um die Todesstrafe, der Kämpfe um das Schafott – und der Grenzen einer Kultur, die sich über den Akt der Auslöschung positiv definiert.
Am Anfang war das schlichte Abschlachten. Valentin Hobold wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts als sündhafter Gesetzesbrecher exekutiert. Vor aller Augen hat er durch seinen qualvollen Tod die Integrität der göttlich-politischen Ordnung wiederherzustellen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wird dieses Fest der Martern zunehmend kritisch gesehen. Zwar gilt Kants kategorischer Imperativ: „Hat er aber gemordet, so muss er sterben!“ Aber im Zeitalter des aufgeklärten Bürgers muss die Praxis des Totmachens sich ein neues Gesicht geben. Der Delinquent muss so vernünftig, menschenfreundlich, schmerzfrei und zivilisiert als möglich vom Leben zum Tode befördert werden. Im Akt des notwendigen Tötens muss sich eine Humanität beweisen, die um die Zerbrechlichkeit des Fortschritts weiß.
Deshalb erzählt die Gewalttat und ihre Strafe auch von der Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei. Ist nicht jeder Gewalttäter ein Rückfall in diese Barbarei, ebenso gefährlich wie bemitleidenswert? Ist nicht jeder Mörder grundsätzlich krank? Medizinische, juristische und psychiatrische Diskurse stellen unter diesen Fragestellungen die Todesstrafe in ein neues Licht und erzwingen eine neue Politik der Legitimation des Tötens. Hinzu tritt die Entdeckung des Pöbels. Schon Hobbes hatte im „Leviathan“ auf die irritierende Erfahrung entfesselter Massen hingewiesen. Nun wird die Öffentlichkeit der Hinrichtungen zum viel diskutierten Thema. Sind die Feste der Martern nicht gefährliche Orte der Erregung und des Aufruhrs? Provozieren sie nicht Unordnung, Leidenschaften, Irrationalität?
Diese Gemengelage aus Philanthropismus und Wissenschaft, sozialer Angst und politischem Herrschaftskalkül entwirft die Todesstrafe in Gestalt einer subjektlosen Strategie neu. Effizienz und Anonymität, Humanität und Herrschaft verbinden sich und finden im mechanischen Fallbeil ihr adäquates Instrument wie im ausgewählten Personenkreis der Hinrichtung ihr angemessenes Publikum. Es entstehen Inseln der Gewalt, in denen sich der blutige Akt ebenso vollzieht wie neu begründet.
Jürgen Martschukat schreibt seine Geschichte des gesetzlichen Tötens in zwei Etappen. Das Ancien Régime kannte den Bürger nicht. Seine Souveränitäts-Macht zielte auf den Untertan, den es in Schrecken zu halten galt. Die Aufklärung will den selbstbewussten Bürger, der tötet, ohne seine Humanität zu verleugnen. Man verbannt den Akt der Todesstrafe in einen nichtöffentlichen Raum, um diskret und sauber zu töten. Der scharfe Schnitt, der das Genick des Delinquenten trifft, soll auch in das Bewusstsein des Bürgers eindringen: als schwarze Drohung der Barbarei – und als Triumph der Menschlichkeit.
„Inszeniertes Töten“ ist daher auch ein Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung. Indem die Vernunft die Gewalt aus dem öffentlichen Raum scheinbar exkommuniziert, kann sie ihre Faszination doch nicht brechen. Im Gegenteil. Der Schrecken als Quelle der Lust, schon im 18. Jahrhundert kritisch vermerkt, erfährt durch seine Verbannung eine intensivierte Aufmerksamkeit. Jürgen Martschukat dokumentiert dies durch eine Vielzahl von ästhetischen Beispielen der Zeit.
In den letzten Jahren ist innerhalb der deutschen Geschichts-wissenschaft kaum ein Buch erschienen, das sich in so enormer Weise den theoretischen Figuren und Anregungen öffnet, die Michel Foucault in den 70er-Jahren skizziert hat. „Inszeniertes Töten“ lebt in vielfacher Hinsicht von der Inspiration durch Foucaults große Studie „Überwachen und Strafen“. Aber dies will richtig verstanden sein. Jürgen Martschukat zeigt, wie Historiker auf theoretische Figuren und Probleme produktiv reagieren können: nicht im Sinne einer neuen Schule – nichts wäre Foucault unangemessener –, sondern als Überprüfung der ach so selbstverständlichen Allgemeinplätze und als Kritik der historischen Floskeln.
Also: Man nimmt eine Spur auf und überprüft sie im Prozess der historischen Recherche. „Inszeniertes Töten“ entzieht sich daher dem Popanz einer reinen Diskurstheorie, die sich in selbstverliebter Textexegese erschöpft und die soziale Materialität als bloßen Zierrat abtut. Keine physische Praxis ohne kulturelle Imprägnierung, keine Handlung ohne (Be-)Deutung, so könnte man den theoretischen Extrakt dieser Geschichte einer Rationalität des Tötens zusammenfassen. In jeden Akt der Tötung geht eine ganze Gesellschaft samt ihren Weltbildern ein: nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Jürgen Martschukat: „Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert“. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2000, 272 Seiten, 68 DM
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