kommentar: Gregor Gysi tut es
Das neue politische Koordinatensystem
Die Parteienarithmetik der Republik hat sich grundsätzlich verschoben. Seit dem vergangenen Wochenende spielen drei gegen zwei. Und die drei – SPD, Grüne, PDS – haben dauerhaft beste Chancen, die zwei – Union, FDP – in die Oppositionsbänke zu drücken.
Das ist die Botschaft aus Berlin. Und sie gilt auch für Magdeburg, Schwerin, Potsdam und vor allem für die nächste Bundestagswahl 2002. Es gibt sie also wirklich, die „Mehrheit links von der Mitte“ (Willy Brandt). Die Sozialdemokraten haben die PDS aus der Quarantänestation geholt, haben ihr die letzten Pockennarben gepudert und sie für geheilt erklärt. Damit dürfen die Nachfolger der SED mitspielen. Der Berliner Aufbruch glich am Samstag zwar phasenweise einer Begräbnisfeier, war aber die Geburtsstunde eines neuen politischen Koordinatensystems, das mit der Kandidatur Gysis eine zusätzliche Pointe erhält. Die Machtbeteiligung der PDS ist nicht mehr länger auf ostdeutsche Ghettos beschränkt. Die „Ausgrenzung ihrer Wähler“, so der einfühlsame Seelendoktor Müntefering, ist beendet.
Elf Jahre lang war die PDS in der alten Bundesrepublik unter „Sonstiges“ subsumiert worden, ihre Wählerstimmen waren tote Stimmen, neben denen sich das Patt aus Rot-Grün und „bürgerlichem“ Lager aufbaute. Aber in der letzten Zeit wurde immer deutlicher: Es dauert nicht mehr lange, bis die SPD der Versuchung erliegt. Jetzt sitzt die PDS erst mal am Katzentisch der Macht und hat dort nur eine Aufgabe: Schnauze halten, Pfötchen geben.
Für SPD und Grüne ist die PDS kein Partner mit eigenem Profil, mit Inhalten und Ideen, sondern ein arithmetisches Reservoir. Eine Art Notration, der man sich im Ernstfall bedient, wenn es allein nicht reicht. Zum Beispiel bei der nächsten Bundestagswahl. Bis dahin soll die PDS vor allem „Vergangenheit aufarbeiten“ und „dem Populismus abschwören“. Auf Dauer kein sehr amüsantes Programm. So ist die PDS die einzige Partei der Welt, von der nicht mehr verlangt wird, als sich nach Kräften zu schämen.
Doch mit der Kandidatur ihres besten Mannes brechen die Parias aus der ihnen zugewiesenen Rolle aus. Keine 24 Stunden nachdem man ihnen bei der Abwahl von Eberhard Diepgen noch einmal Stasi, Mauer und SED-Staat um die Ohren geschlagen hat, will Gysi ganz selbstverständlich Regierender Bürgermeister von Berlin werden. Der Steigbügelhalter nimmt Reitkurse. Und die Zuschauer applaudieren. Endlich wird es spannend in Berlin, der Mehltau der Provinz wird weggespült. Die Pflanze lebt. MANFRED KRIENER
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