: Die langen Schatten des Krieges
Véronique Tadjo hat ein Buch geschrieben über die Wunden, die der Völkermord in Ruanda geschlagen hat. Beim Internationalen Literaturfestival las und erzählte sie von den Toten, die die Überlebenden nicht in Ruhe lassen
von PETRA WELZEL
Wie ein Zeichen von Vergänglichkeit flattert der Schatten eines Vorhangs auf der Leinwand im Festsaal der Sophiensaele. Als wäre Véronique Tadjo schon gegangen. Ihr Stuhl zwischen dem Dolmetscher und einer Schauspielerin, die die Texte der Autorin über den Genozid in Ruanda in der deutschen Übersetzung liest, ist leer. So leer wie die meisten Plätze im Auditorium. Die 25 Menschen schweigen bedrückt, als sie von den Toten hören, die regelmäßig die Lebenden besuchen: „Wenn sie zu ihnen kamen, fragten sie, weshalb man sie getötet hatte.“
Dann liest die Schauspielerin die Geschichte von „Anastase und Anastasia“. Es handelt sich nicht um die Königskinder, die sich lieben, aber nicht zusammenkommen können. Vielmehr sind es Bruder und Schwester, und dennoch überfällt Anastase eines nachts Anastasia in ihrem Bett mit dem Messer und vergewaltigt sie. Auch das war der Völkermord von Ruanda: Zügellose Gewalt am eigenen Fleisch und Blut. Als die letzten Sätze gelesen werden, steht die Autorin im nicht beleuchteten Halbdunkel des Saals.
Eine Bombe aus dem 2. Weltkrieg habe den Verkehr lahm gelegt und sie aufgehalten, erklärt Véronique Tadjo, nachdem sie ins Licht getreten ist. Die Schatten des Krieges sind manchmal sehr lang. Tadjo weiß das nur zu gut. Seit 1994 lassen ihr die Hundertausende Toten in Ruanda keine Ruhe mehr. Das Land ist nicht ihre Heimat, der Kontinent schon. Sie ist in dem Staat, der sich Elfenbeinküste nennt, aufgewachsen, hat in Frankreich und Amerika studiert, kam zurück und blieb, bis sie mit ihrem britischen Ehemann, einem Reuters-Journalisten, nach Kenia ging. Vormittags in ihrem Hotel am Ku’damm in einem eisig gekühlten Konferenzzimmer hatte sie gesagt: „Ich hätte niemals gedacht, dass so etwas in Afrika passieren könnte.“
Schon während des Schlachtens zwischen Hutu und Tutsi wollte sie nach Ruanda fahren. Mit eigenen Augen sehen, was dort vor sich geht. Doch erst eine Einladung des französischen Festivals „Fest Afrika“ ermöglichte ihr 1998 mit 11 anderen SchriftstellerInnen und KünstlerInnen die Reise in ein vom Völkerkrieg zerstörtes Land. Sie sollten und wollten Erinnerungsarbeit leisten, gegen das Vergessen anschreiben. Tadjo hat ihre auf diese Weise entstandene Mischung aus Reportage und Kurzgeschichten am Ende „Der Schatten Gottes“ genannt. Keine Narbe ist ihren Beobachtungen entgangen, keine noch nicht verheilte Wunde. Sie hat die Toten wieder zum Leben erweckt und das Sprechen gelehrt.
Dabei hat sich die 46-jährige Mutter von drei Kindern bisher hauptsächlich mit dem Schreiben und Illustrieren von Kinderbüchern beschäftigt. Ihre Augen beginnen zu leuchten, wenn sie die dünnen Fibeln aufklappt und die bunten Bilder voller Fantasiefiguren erklärt. Wenn sie von „Mama Wata“ erzählt, der afrikanischen Meerjungfrau, die jeder auf ihrem Kontinent kenne. „Sie ist als Frau ein besonders kraftvoller Charakter!“
Aber in Ruanda haben die Afrikaner ihren Glauben, ihre Wassergöttin verloren. Als Véronique Tadjo nach ihrer Lesung im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals mit anderen afrikanischen AutorInnen über das „Fest Afrika“-Projekt diskutiert, sind ihre Augen müde. Nur ihr Geist ist wach. „Zu schweigen“, sagt sie, „wäre das Schlimmste. Und selbst wenn man es gebrochen hat, ist es noch nicht vorbei.“ „Hitlerjugend“ war das einzige deutsche Wort, das ihr am Morgen eingefallen war. Zur Erklärung fügt sie hinzu: „Es ist eine sehr kurze Geschichte, über die wir hier sprechen. Auch der Zweite Weltkrieg wurde nicht in sieben Jahren verarbeitet.“
Véronique Tadjo: „Der Schatten Gottes. Reise ans Ende Ruandas“. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2001, 140 Seiten, 25 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen