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Abwesende Väter

Gerhard Schröder hat seinen im Krieg gefallenen Vater nie kennen gelernt. Mit Mutter und Schwester erlebte er Hunger und Elend, Umzüge in Behelfsbaracken, Ernte- und Stallarbeit. Schon als Kind musste er die Pflichten Erwachsener übernehmen – so genannte Parentifizierung. Den Einfluss solcher Biografien auf Verhalten, Beziehungen und Umgangsformen diskutiert der Mediziner und Psychoanalytiker Hartmut Radebold in seinem Buch „Abwesende Väter“. Wie passt der überraschende Rücktritt Oskar Lafontaines da hinein? „Aus familiendynamischer Sicht lassen sich Lafontaine (geboren 1943) und Gerhard Schröder (geboren 1944) als [. . .] ‚Brüder‘ verstehen. Erträgt jedoch ein parentifiziert aufgewachsener Junge, dem durch Vaterlosigkeit und soziale Situation ein frühes Erwachsenensein abgefordert wurde, auf Dauer einen älteren Bruder?“

Nahezu die Hälfte aller zwischen 1931 und 1950 geborenen Kinder hatten „abwesende Väter“ – jahrelang im Krieg, gefallen oder wegen eigener Traumatisierungen verschlossen und für ihre Kinder nicht präsent. Kein Wunder, dass es nie zu einer Forschung über dieses Phänomen kam, denn die Kinder ließen nicht zu, das Schicksal ihrer Mütter über ihr eigenes zu stellen. Kritik aber übt der Psychoanalytiker Radebold an der eigenen Profession: Wir waren blind, schreibt er, „identifiziert mit der weitgehenden Bedeutungslosigkeit tatsächlich traumatisierender Einflüsse“, die auch zur eigenen Biografie gehörten.

Von der Kritik nimmt sich Radebold nicht aus. Die Bedeutung eigener Vaterlosigkeit entdeckte er erst im Rahmen seines langjährigen Forschungsschwerpunkts „Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten von 45- bis 70-Jährigen mittels langfristiger Psychoanalysen und Psychotherapien“. Sein Buch ist ein Ergebnis dieser Arbeit.

Wie beeinflussen „abwesende Väter“ das öffentliche Geschehen? Radebold bringt ein Beispiel aus der Politik. Mit dem Spendenskandal sei das „patriarchalische Führungssystem Kohl“ in Verruf geraten. In seinem Buch fragt er, wie sich solch ein System etablieren konnte und welche Bedeutung Kohl für seine „Söhne“ Rüttgers, Rühe oder Schäuble hatte. Ist es vorstellbar, dass sie aufgrund ihrer eigenen Biografien Kohls Unterstützung, Anerkennung und Förderung suchten? ANDREA SCHNEIDER

Hartmut Radebold: „Abwesende Väter“. Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, 249 Seiten, 50 DM

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