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„Gewalt kann hilfreich sein“

Interview BETTINA GAUS und EBERHARD SEIDEL

taz: Seattle, Nizza, Göteborg und demnächst der G 8-Gipfel in Genua – handelt es sich bei den globalisierungskritischen Protesten gegen Gipfeltreffen um eine neue soziale Bewegung?

Dieter Rucht: Es gibt bei diesen Demonstrationen zumindest neue qualitative Merkmale. Dazu gehört etwa, dass jetzt wirklich transnational mobilisiert wird, also über Grenzen hinweg – und nicht wie früher nur einzelne Delegierte aus anderen Ländern kommen. Zum Zweiten werden diverse Themen enger miteinander verknüpft, zum Beispiel Frauen, Armut, Ökologie und Menschenrechte.

Waren denn die Studentenproteste und insbesondere der Kampf gegen den Vietnamkrieg nicht auch schon internationale Bewegungen?

Dabei handelte es sich um Proteste, die zeitgleich in vielen Ländern stattfanden. Es gab auch marginale Kooperationen. So waren beispielsweise im Februar 1968 zum Vietnamkongress in Berlin Delegierte aus den USA, aus Frankreich, aus Italien angereist. Aber das war eher eine symbolische Aktion. Die Massen aus dem Ausland sind damals nicht gekommen. Das hat sich geändert. Eine neue Qualität besteht auch darin, dass sich nicht nur Demonstranten aus den kapitalistischen Ländern zusammenfinden, sondern dass tatsächlich die Südländer sehr aktiv an der Vorbereitung und Mobilisierung der Aktionen beteiligt sind.

In den 90er-Jahren sind linke Bewegungen öffentlich kaum noch in Erscheinung getreten, stattdessen haben Rechtspopulisten in mehreren Ländern Zulauf bekommen. Nun wird Kritik an der Globalisierung ja nicht nur von links, sondern auch von rechts geübt. Wer wird gewinnen – die linke Position oder die rechtspopulistische?

Bezogen auf die Probleme der Globalisierung ist der Nährboden für die Rechten relativ fruchtbar. Wenn man auf alle komplexen Fragen eine einfache Antwort hat, nämlich Abschottung in kultureller wie auch in anderer Hinsicht – dann lehrt die Erfahrung, dass ein nennenswerter Teil der Bevölkerung dafür empfänglich ist. Allerdings sind bestimmte Aussagen ja nicht allein deshalb falsch, weil sie von Rechten kommen. Wenn ein Rechter sagt, dass zwei und zwei vier ist, dann würde ich davon trotzdem nicht abrücken wollen. Auch Rechtspopulisten können eine Kritik an bestimmten Folgen von Globalisierung äußern, die berechtigt ist.

Lange Zeit hindurch sah es so aus, als ob die Zeit der großen Massendemonstrationen endgültig vorbei sei. Gewinnt der Druck der Straße jetzt wieder an Bedeutung?

Ja, und dieser Druck hat sich verschärft. Es gehen mehr Leute auf die Demonstrationen als früher, und auch die Radikalität nimmt zu.

Sie haben einmal geschrieben, dass Demonstrationen wirkungslos bleiben, wenn über sie nicht berichtet wird. Haben Demonstrationen denn überhaupt eine Chance auf ein nennenswertes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit, wenn dabei nicht ein paar Scheiben zu Bruch gehen?

Das hängt von der Situation ab. Es gibt normalerweise vier Faktoren, die öffentliche Aufmerksamkeit sichern. Das ist zunächst einmal die schlichte Zahl. Riesendemonstrationen finden automatisch Beachtung. Das schleift sich aber ab. Die Latte wird jedes Mal höher gehängt. Der zweite Faktor ist die Radikalität der Aktion. Wann immer es Verletzte oder gar Tote gibt, wird automatisch berichtet. Der dritte Faktor ist Originalität, also beispielsweise eine besonders ungewöhnliche Aktion. Der vierte ist die Beteiligung prominenter Einzelpersonen oder größerer, etablierter Organisationen.

Den Globalisierungskritikern scheinen aber keine besonders orginellen Aktionen einzufallen. Es fehlt ihren Protesten auch an leicht eingängigen Symbolen. Greenpeace hat mit sehr einfachen Mitteln sehr erfolgreich um öffentliche Sympathie geworben. Warum gibt es keine vergleichbaren Ideen im Zusammenhang mit der neuen Kapitalismuskritik?

Greenpeace ist eine Organisation, die hochselektiv bestimmte Themen aufgreift – und zwar Themen mit relativ durchsichtiger Konstellation, bei denen sich die Frage nach den Guten und den Bösen ziemlich leicht beantworten lässt. Außerdem lässt sich Greenpeace fast nur auf Konflikte ein, die man gewinnen kann. Die Organisation setzt auf ganz bestimmte Themen mit der Kalkulation: Hier können wir mit großer Wahrscheinlichkeit im Sinne der symbolischen Auseinandersetzung erfolgreich sein.

Das klingt doch nach einer geschickten Strategie.

Mag sein. Aber eine heterogene Bewegung wie die der Globalisierungskritiker hat es viel schwerer. Bei diesem Thema kann man nicht wahllos irgendwelche Kampagnen herauspicken, die sich mit dem Einsatz von Greenpeace für die Robbenbabys vergleichen ließen. Die Globalisierungskritiker setzen nicht mal an dem und mal an jenem Punkt an – sondern an ganz zentralen Punkten, bei denen es um Macht und viel Geld geht. Da kann man nicht beliebig auf Nebenschauplätze ausweichen.

Haben Sie den Eindruck, dass die globalisierungskritische Bewegung überhaupt daran interessiert ist, in breiten Teilen der Öffentlichkeit um Zustimmung zu werben?

Im Prinzip ja. Es besteht durchaus die Absicht, eine Massenmobilisierung hervorzurufen. Allerdings gilt das für die verschiedenen Gruppen in unterschiedlichem Maße. Es gibt Gruppen, denen die öffentlichen Reaktionen schlicht egal sind. Diesen genügt es, als Störobjekt aufzutauchen. Andere Gruppen achten sehr auf Medienreaktionen und versuchen auch, diese strategisch zu beeinflussen.

Mit erkennbar geringer werdendem Erfolg. In Seattle gab es in den Medien und selbst bei Politikern noch viel Sympathie für die Demonstranten, in Göteborg konnte davon keine Rede mehr sein. Liegt das in erster Linie an der Eskalation der Gewalt?

Das Gewaltniveau in Seattle war kaum geringer als in Göteborg, daran kann es also kaum liegen. Ich glaube nicht, dass die Gewaltfrage der entscheidende Punkt ist, obwohl es stimmt, dass sich von einem bestimmten Grad der Eskalation an die gesamte Aufmerksamkeit nur noch auf die Form des Protestes und nicht mehr auf dessen Inhalt konzentriert. Aber es gibt keine Automatik, der zufolge die Öffentlichkeit einer Bewegung ihre Sympathie entzieht, wenn im begrenzten Umfang Gewalt angewandt wird.

Zumindest die Medien vermitteln da aber einen anderen Eindruck.

Es gibt soziale Gruppen, bei denen Protest in der Regel eher toleriert wird als bei anderen. Als die Fernfahrer zum Beispiel den Brenner blockierten, fuhr der damalige bayerische Ministerpräsident Strauß hin und drückte seine Unterstützung aus. Blockieren Kurden eine deutsche Autobahn, dann ist hingegen die Reaktion eindeutig negativ. In Seattle hat es für den Erfolg seinerzeit eine große Rolle gespielt, dass US-amerikanische und kanadische Gewerkschaften die Hauptträger der Demonstrationen waren. Das waren Sympathieträger – zumindest Gruppen, die als seriös galten.

Ist es für den Erfolg einer Protestbewegung also von zentraler Bedeutung, aus welchen Organisationen sich ein Bündnis zusammensetzt?

Das ist wichtig. Aber die Frage, ob Proteste erfolgreich sind, hängt von verschiedenen Kriterien ab, nicht nur vom Wohlwollen der Öffentlichkeit. Ein Kriterium ist natürlich: Wurden wirtschaftspolitische Änderungen erreicht? In dieser Hinsicht war Seattle kein Erfolg. Ein anderes Kriterium: Wurde das konkrete Treffen beeinflusst? In diesem Sinne war Seattle aus Sicht der Demonstranten durchaus ein Erfolg. Ein drittes Kriterium ist öffentliche Aufmerksamkeit. Die kann schon für sich genommen einen Erfolg bedeuten – mit oder ohne öffentliche Sympathie. Was diesen Punkt betrifft, war Seattle sehr wichtig. Die Proteste haben sehr differenzierte Reaktionen hervorgerufen. Selbst US-Präsident Bill Clinton äußerte Verständnis für die Anliegen der Demonstranten.

Wie sehen Sie die Perspektive für das Gipfeltreffen in Genua?

In Genua wird es wieder etwas anders aussehen als in Göteborg. Die italienischen Gewerkschaften unterstützen die Proteste, daneben auch ein ziemlich breites Spektrum anderer Organisationen – bis hin zur Umweltorganisation WWF-Italien und kirchlichen Kreisen. Das dürfte die Stimmung auch in den Medien positiv beeinflussen. In Deutschland kann ich hingegen dieses breite Bündnis nicht erkennen, von dem ich in Italien gesprochen habe. Das ist für die öffentliche Meinung ein wichtiger Faktor.

Werden also die gewalttätigen Auseinandersetzungen in ihrer Bedeutung insgesamt überschätzt?

Ich würde keine Regel aufstellen, die besagt: Gewalt funktioniert nie im Sinne eines realen Einflusses auf politische Entscheidungen. Auch nicht umgekehrt: Gewalt ist am Ende doch das einzige Mittel, das etwas bewirken kann. Die einzelnen Fälle sind jeweils sehr unterschiedlich gelagert, und in der Regel gibt es Mischformen. Manchmal ist es so, dass es einerseits die Gewalt der Straße gibt und zeitgleich andere, gemäßigte Gruppen mit ähnlichem Grundanliegen am Verhandlungstisch sitzen. Deren Position kann durch die Gewalt auf der Straße sehr wohl gestärkt werden, ohne dass beide Gruppen organisatorisch irgendetwas miteinander zu tun haben müssen. Nach dem Motto: Wenn ihr uns jetzt keine Zugeständnisse macht, dann seht ihr, was passiert.

Kann es nicht andererseits auch seitens der Regierungen ein Interesse an Gewalt geben, weil diese hoffen, dass dadurch die Bewegung insgesamt diskreditiert wird?

Ja, das kommt vor. Es sind bekanntlich immer wieder einmal Leute gezielt als Provokateure in eine Protestbewegung eingeschleust worden. Andererseits stellt der Druck der Straße aber auch Institutionen wie Weltbank und IWF oder die Regierungen vor wachsende Legitimationsprobleme. Sie werden sich mit den Protesten auseinander setzen müssen, denn sie können sich für ihre Gipfeltreffen eben nicht immer auf Schiffe oder in Festungen zurückziehen. Es wäre hinsichtlich der symbolischen Wirkung fatal, wenn sich die Herrschenden in Fluchtburgen zurückziehen müssten.

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