: Ein Quäntchen Zivilcourage
Eine der wichtigsten Traditionslinien der Bundeswehr führt zum 20. Juli 1944 zurück. Doch darf die Erinnerung an den Widerstand nicht nur Heldenverehrung sein
Der heutige Tag ist nicht nur für Sie, die jungen Soldatinnen und Soldaten, die vereidigt werden, ein besonderer Tag, sondern auch für mich: Es ist das erste Mal, dass ich aktiv an einer Gelöbnisfeier der Bundeswehr teilnehme. Darüber hinaus hält zum ersten Mal in der ja noch jungen Geschichte der Bundesrepublik ein Repräsentant der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland die Ansprache bei dieser feierlichen Zeremonie.
Als ich in Ihrem Alter – also 18 Jahre alt – war, hatte der Deutsche Bundestag den Aufbau der Bundeswehr beschlossen. „Bundeswehr – besser nicht!“ Das war im Jahr 1955 meine Meinung. Und ich war nicht der Einzige, der damals so dachte. [. . .]
Gerade einmal zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – und schon wieder sollte es Deutsche in Uniform geben –, das war für uns schlicht unvorstellbar. An deutschen Uniformen hafteten einfach zu viele schreckliche Erinnerungen, Erinnerungen an Krieg und Verfolgung, Flucht und Deportation, Folter und Mord. Die grauen Uniformen der Wehrmacht waren für uns Juden und für Millionen anderer Menschen zu Uniformen des Grauens geworden. [. . .]
Unbestritten ist die Tatsache, dass die Vernichtungsmaschinerie der Nazis den siegreichen deutschen Truppen folgte: Ohne die Besetzung Polens hätte es nicht Auschwitz und Treblinka gegeben. Ohne die militärische Unterwerfung Europas wäre die Schoah, der millionenfache Mord und die Vernichtung des europäischen Judentums, überhaupt nicht möglich gewesen. Und es ist kein Zufall, dass die Befreiung der Konzentrationslager erst mit der militärischen Niederlage der Wehrmacht kam. Für uns war der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung. [. . .]
Inzwischen hat sich meine frühere Haltung grundlegend geändert. Die Bundeswehr hat in den fast fünf Jahrzehnten ihres Bestehens bewiesen, dass sie weder ein Staat im Staat noch eine Fortsetzung des alten deutschen Militarismus mit anderen Mitteln ist. Vielmehr ist sie Teil unserer rechtsstaatlichen Demokratie. [. . .] Dafür bin ich als Bürger dieses Staates dankbar. Deshalb hat mir Ihre Einladung, Herr Minister Scharping, auch keine Kopfschmerzen bereitet. Ich bin gerne zu dieser feierlichen Zeremonie gekommen.
Ich denke, meine frühere Skepsis ist auch deshalb einem großen Vertrauen gewichen, weil sich die Bundeswehr immer wieder sehr ernsthaft damit beschäftigt hat, über welche Traditionen sie sich selber definieren sollte. [. . .] Eine der wichtigsten Traditionslinien führt zum 20. Juli zurück. [. . .] Der 20. Juli ist Symbol für den gesamten deutschen Widerstand, er ist ein Tag sowohl des Scheiterns wie auch der Hoffnung, und nicht zuletzt ist er ein Tag der Mahnung und der Ermutigung. Allerdings: Wäre dieser aktive Widerstand nicht erst 1944, sondern bereits Anfang der Vierzigerjahre erfolgt, hätte ohne Zweifel das Leben von Millionen Menschen gerettet werden können.
Zum aktiven Widerstand gehörten Linke und Liberale, Fortschrittliche und Konservative, Unternehmer und Gewerkschaftler, Diplomaten und Generale, aber auch einfache Soldaten. [. . .] Wenn wir heute am Tag des Aufstandes gegen Hitler dieser mutigen Menschen gedenken, dann geht es allerdings nicht um ein Helden-Stück aus vergangenen Tagen, dem man pflichtschuldig seine Reverenz erweisen muss, um wieder rasch zur Tagesordnung überzugehen. [. . .] Zivilcourage ist nicht nur in einem Unrechtsstaat bitter nötig – Zivilcourage brauchen wir auch heute noch. [. . .]
Heute steht unser Land vor Herausforderungen – und eine der größten kommt wieder von rechts. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 hielten ich und andere es schlicht für undenkbar, dass noch einmal Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus in Deutschland Wurzeln schlagen könnten. Zu schrecklich waren die Bilder des Naziterrors, zu eindeutig die Erfahrungen mit den Nationalsozialismus, zu unmissverständlich das Urteil der Geschichte, um noch einmal in Versuchung zu geraten. Davon waren wir überzeugt. Aber es war eine Illusion.
Wenn heute wieder Gedenkstätten besudelt und Brandsätze gegen Synagogen geschleudert werden, wenn wieder Morddrohungen gegen Andersdenkende ausgestoßen und Hetzjagden auf Ausländer veranstaltet werden, dann sind das leider keine Einzelfälle mehr. Fremdenhass, Rassismus, Antisemitismus sind längst Teil einer bedrückenden Realität in Deutschland geworden. [. . .] Inzwischen scheint der Rechtsextremismus sogar eine neue Qualität gewonnen zu haben: Was früher meist nur klammheimlich geschehen ist, passiert zunehmend am helllichten Tag, öffentlich, unverschämt, provokativ. [. . .]
Wer wieder wegschaut, wer wieder verharmlost oder meint, all das gehe ihn nichts an, macht sich schuldig – in unserer Gesellschaft und auch in der Bundeswehr, in der es ja in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von rechtsextremistischen Vorkommnissen gegeben hat. Dass die Bundeswehr nicht frei davon ist, wird niemand verwundern: Denn die Bundeswehr ist Teil unserer Gesellschaft und spiegelt ihre Verhältnisse wider – mit all ihren Spannungen und Widersprüchen, Problemen und Gefährdungen.
Gott sei Dank nimmt die Bundeswehrführung die hier liegenden Herausforderungen sehr ernst und hat inzwischen eine Menge unternommen, um Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit in der Truppe den Boden zu entziehen und die Integration von Soldaten ausländischer Herkunft zu beschleunigen. Immerhin tun heute viele Soldaten ihren Dienst in der Bundeswehr, die selbst oder deren Eltern nicht in Deutschland aufgewachsen sind und aus über 80 Nationen stammen! [. . .]
Bei einem Ereignis wie dem heutigen möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass im Ersten Weltkrieg 100.000 jüdische Männer aus Liebe zu ihrem deutschen Vaterland ebenso wie ihre nichtjüdischen Kameraden zu den Waffen geeilt sind. Mehr als 10.000 Juden sind gefallen, Tausende sind hoch dekoriert worden. Aber der bedingungslose Einsatz für ihr deutsches Vaterland hat ihnen nichts genutzt, die meisten von ihnen wurden wenige Jahre später von NS-Barbaren verfolgt, gefoltert und auf bestialische Weise umgebracht.
Ich denke, die Geschichte des 20. Juli lässt uns nicht kalt, mich nicht und nicht Sie, die jungen Soldaten, die heute vereidigt werden. Hier werden der Widerstand gegen ein unmenschliches Regime, der Kampf um Wahrheit und Menschlichkeit sehr konkret, tragen Namen, haben Gesichter. [. . .] Und sie machen uns Mut: Man muss sich nicht mit dem Bösen, mit Brutalität und Gewalt abfinden. Erst recht nicht in einer funktionierenden Demokratie wie unserer.
Das fängt manchmal im Kleinen an, zum Beispiel bei dummen, ausländerfeindlichen Bemerkungen. Dann ist zumeist kein großes Heldentum gefragt, sondern einfach ein Quäntchen Zivilcourage. [. . .] PAUL SPIEGEL
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