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Einer Seifenoper letzter Akt

von DIRK KNIPPHALS

Vorhang zu. Fragen offen. Abgang. Was bleibt, ist das Erstaunen darüber, dass diese Sendung so wichtig werden konnte; wichtig genug immerhin, um in ihren besten Zeiten unserem kleinen Literaturbetrieb Bücher, Themen und Sichtweisen geradezu zu diktieren. Und es bleibt die Erinnerung an viele, viele Lieblingsszenen. Zum Beispiel – Maz ab! – an folgende.

Sie beginnt, wie allermeistens, mit einer herrischen Bemerkung des Chefs selbst, von Marcel Reich-Ranicki. Er sagt: „Jetzt der nächste Fall: Aleksandar Tisma, ein serbokroatischer Autor . . .“ Worauf Sigrid Löffler behende auf eine höhere Diskursebene springt: „Sie sprechen, als ob die Autoren alle verarztet werden müssten.“ Worauf Reich-Ranicki, der bei Widerspruch immer aufdreht, sofort aufs Grundsätzliche zielt: „Ja, es sind Fälle. Für mich ist jedes neue Buch ein Fall.“ Hört man hier nicht sofort ein Beben in seiner Stimme?

Rechtsprechung ohne Kodex

Darauf aber schlägt zunächst die Stunde Hellmuth Karaseks, des Dritten im Bunde. Freilich weiß er noch nicht recht, worauf die Sache hinausläuft: „Wie geht’s uns denn heute, gell . . .“, sagt er. Was Reich-Ranicki schlussendlich Gelegenheit gibt, sich prinzipiell zu erklären: „Es ist mehr ein juristischer Fall, wo man als Verteidiger oder Ankläger auftritt, und nicht ein medizinischer Fall. Kritik hat nämlich mit Rechtsprechung ohne Kodex etwas zu tun.“ So gesprochen und wie stets freitags im ZDF gesendet am 12. Dezember 1993. Während des gesamten Wortwechsels muss man sich als unverzichtbares nonverbales Element den spöttisch verzogenen Mund Sigrid Löfflers vorstellen.

Kein Zweifel, zukünftigen Historikern, die sich dermaleinst in Nach-Gutenberg-Zeiten darüber informieren wollen, was denn Romane am Ende des 20. Jahrhunderts gewesen sein mögen, kann man nur empfehlen, sich die Aufzeichungen des „Literarischen Quartetts“ anzusehen. Nicht dass man hier mehr über den Inhalt von Büchern erfahren würde als aus anderen Quellen. Es soll auch Fälle gegeben haben, in denen man gar nicht viel erfuhr. Aber dass Bücher einmal Gegenstände waren, die Bedeutung hatten, dass um sie zum Teil heftig debattiert und gestritten wurde, das wird man kaum anschaulicher vorgeführt bekommen als hier.

Man beachte nur das beinahe staatsaktmäßige Drumherum um die letzte Sendung heute Abend. Gesendet aus dem Schloss Bellevue, der Bundespräsident höchstselbst wird der Beerdigung den staatlichen Segen geben. Das Livepublikum wird vor Prominenz bersten. Wer nicht vertreten ist, wurde von den Presseagenturen zumindest vorab befragt. Günter Grass: „Ich guck mir das schon ewig nicht mehr an.“ Elfriede Jelinek: „Ich habe mir diese Sendung nie angeschaut.“ Wobei man wissen sollte, dass erstens weder Günter Grass noch Elfriede Jelinek zu den Ranicki-Freunden zählen und dass dies zweitens noch keine Kultursendung geschafft hat: von Schriftstellern solchen Ranges aber garantiert nicht gesehen zu werden. Wo doch sonst alle froh sind, wenn Kultur überhaupt irgendwo vorkommt.

Belauern, springen, punkten

Natürlich haben die Wirkung der Sendung und die daraus resultierende Aufregung viel mit der Reizfigur Marcel Reich-Ranickis zu tun. Er gehört ganz sicherlich zu den wenigen Welteinmaligkeitsmenschen, die unsere Literaturszene hervorgebracht hat. Aber das ist es nicht allein. Was dem „Quartett“ zu seiner medialen Durchschlagskraft verholfen hat, lässt sich in der geschilderten Szene gut studieren. Hier trafen drei verschiedene Charaktere – plus eines wechselnden Gasts – aufeinander, die sich ständig gegenseitig belauerten, immer auf dem Sprung, gegen den anderen zu punkten. Das Sprechen über Bücher war so eingebunden in eine Dramaturgie, wie man sie aus neueren amerikanischen Seifenopern kennt. Das diskursive Prinzip des hit and run: Setze deine Pointen, warte die Lacher ab, dann gehe aber sofort wieder hinter deiner ernsthaften Seite in Deckung.

Anders als alle anderen Büchersendungen, die eher als Plauderei inszeniert sind, folgte das „Literarische Quartett“ den Prinzipien eines Kampfes untereinander. Hier gab es keinen Raum für Hintergründiges oder Leises. Was die Argumente betrifft, so herrschte nicht die universitäre Logik des Nachdenkens, sondern die strikte Auslese eines survival of the fittest: Der Schnellere, Lautere, Lustigere macht den Stich.

In den Anfängen der Sendung wurde das häufig als reines Unterhaltungsschema kritisiert, was gerne auch von kulturkritischen Untertönen grundiert wurde. Allmählich aber schälte sich auch der positive Aspekt dieses auf Krawall angelegten Settings heraus: Weihevolles Sprechen über Literatur war so jedenfalls nicht möglich. Wer bedenkt, zu welch verzücktem Schmatzen andere Fernsehmatadore bei Büchern fähig sind, wird das für keine Kleinigkeit halten. Höchstens, dass Marcel Reich-Ranicki mal die Pferde durchgingen; etwa in den Momenten, in denen er von der Liebe und dem Tod als den großen Themen der Literatur raunte. In diesen Momenten tendierte die Sendung zum Ausgleich sofort auch wieder ins Komödiantische, wenn auch nicht immer freiwillig. In den besten Momenten war Literaturkritik von Literaturkritikkabarett sowieso nicht zu unterscheiden.

Das Ausscheiden Sigrid Löfflers im Streit änderte die Grundbedingungen des „Quartetts“ auf einem Schlag. Iris Radisch, die Nachfolgerin, konnte sich mühen, wie sie wollte: Die Spannung war raus. Was gar nicht mal an den verschiedenen Eigenschaften der beiden Kritikerinnen lag, sondern an der Konstellation. Reich-Ranicki musste beweisen, dass es auch ohne Sigrid Löffler geht. Den emotionalen Abstand zwischen diesen beiden nicht ganz einfachen Menschen jedenfalls scheint keine intellektuelle Brücke mehr überspannen zu können. Iris Radisch gegenüber musste sich Reich-Ranicki dagegen sanft verhalten.

Die Guten ins Köpfchen

Es ist schon sinnvoll, wenn man in einem Nachruf auf diese Sendung von der Literatur abkommt und über die sozialen Bezüge der Teilnehmer nachdenkt: Letztere waren für das Gelingen der einzelnen Folgen viel entscheidender als die Triftigkeit und die Gründe der Urteile über die Bücher. Im Zentrum standen zwar zunächst die – jedes Buch ein Fall – reinen Akte des Urteilens, die Reich-Ranicki immer wieder ins Unerbittliche trieb: Dies Buch ins Köpfchen, jenes Buch in den Müll.

Das „Fleisch“ dieses Formats bestand dann aber darin, wie diese Urteile vor- und nachbereitet wurden im Sozialsystem der vier Teilnehmer. Wer geht bei diesem Roman mit wem ein Bündnis ein? Wer versucht, bei dem anderen Buch wen abzuzocken? Das, nicht die Inhalte waren das Eigentliche, um das sich alles drehte. Ein differenzierter Diskurs über den Stand der Literatur, der Gegenwartsliteratur zumal, ließ sich so natürlich nicht aufspannen. Es wäre aber ein Missverständnis, das „Quartett“ an diesem Maßstab zu messen. Im Medium des Fernsehens entscheiden nicht literarische Qualitäten, sondern allein die der Fernsehkompatibilität. Bei allem, was man an der Sendung auch auszusetzen haben mag: In diesem Punkt war sie in ihrem Genre unerreicht.

Berechtigte Probleme konnte einem allerdings die Macht des „Quartetts“ bereiten; die Zahl der Autoren, die vor und nach der Ausstrahlung, in der sie verarztet wurden, schlaflose Nächte hatten, soll beträchtlich sein. Aber bei Licht betrachtet hat sich das „Quartett“ diese Macht nicht selbst erworben. Sie wurde ihm von den Buchverlagen – und zwar auch von den renommierten – angetragen. Die Teilnehmer wurden regelmäßig mit Hintergrundwissen „behandelt“, der Kampf um die Plätze der besprochenen Bücher muss mit allem Ellenbogeneinsatz ausgefochten worden sein, und sobald einer der Teilnehmer auch nur ein lobendes Adjektiv fallen ließ, fand sich das mit Sicherheit in Buchanzeigen und Klappentexten wieder.

Mag sein, dass das Hauen und Stechen auf der Bühne dieser Sendung gelegentlich unerbittlich war. Das Hauen und Stechen hinter der Bühne war größer. Eins ist allemal sicher: Wenn die heutige Folge über den Sender gegangen sein wird, wird es im Fernsehen ruhiger werden um die Literatur.

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