: Abergläubische Antifa
Gibt es einen „faschistischen Charakter“? Taugen die Erklärungsmodelle nazistisch inspirierter Gewalt noch? Ein Essay zu einer überfälligen Debatte um seltsame Weltbilder
von FRANZISKA MEIER
Immer wenn hierzulande NS-Symbole (Hakenkreuze) und Parolen („Sieg Heil!“) auftauchen, und stets, wenn es zu rechtsextremen Gewalttaten kommt, sind Schlagworte wie Faschismus und Antifaschismus sogleich in aller Munde. Das ist manchmal ziemlich verwirrend, da jeder Gegner der Rechtsextremen, selbst gewalttätige Autonome, dadurch zum ehrenwerten Antifaschisten avanciert. Sogar der Begriff des „faschistischen Charakters“, dem von Anfang an Unschärfe anhaftete, wird dann von Intellektuellen wieder aus der Versenkung geholt: als Schlüssel zur Zeit des Nationalsozialismus wie zur rechtsextremen Szene heute.
Entstanden ist er im weiteren Umfeld des Versuchs, Marx und Freud, die beiden Väter der Gesellschafts- und Selbstanalyse, zusammenzudenken. Die ersten Schritte unternahm in den Zwanzigerjahren der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der – anders als Freud – in der Heilung libidinöser Störungen ein Mittel zur sozialen und politischen Befreiung sah. Er gab der seit Jahrhunderten tabuisierten Sexualität – Herzstück der späteren Überlegungen zum faschistischen Charakter – die Schuld daran, dass die Menschen nicht nur nicht gegen ihre Unterdrückung durch den Staat rebellierten, sondern sogar für Reaktion und Repression stimmten.
In seiner Studie zur „Massenpsychologie des Faschismus“, die ursprünglich nicht als Diagnose des sich etablierenden nationalsozialistischen Regimes konzipiert war (zumal 1933 noch nicht abzusehen war, wie lange sich Hitler und die Seinen an der Macht halten würden), erklärte Reich den großen Erfolg der Nazis damit, dass sie mit Hilfe von Symbolen (das Hakenkreuz etwa deutet er als abstrakte Darstellung zweier im Sexualakt verschlungener Körper) verdrängte Sexualwünsche der Wähler ansprachen und mit Ersatzbefriedigungen lockten. Dieser Strategie, so Reich, könnten die Kommunisten wirksam nur durch eine offene Sexualpolitik begegnen: eine sexuelle Revolution, Erziehung zur Lust, die sich jedoch erst die Achtundsechziger auf ihre Fahnen schrieben.
Zu einer reflektierteren Verknüpfung von Marxismus und Libidotheorie, in der die Idee eines faschistischen Charakters konkretere Gestalt annahm, kam es bei Erich Fromm, Psychoanalytiker am Frankfurter Institut für Sozialforschung. 1941 ging er in dem Buch „Escape From Freedom“ (deutscher Titel: „Die Furcht vor der Freiheit“) der Reich verwandten Frage nach, warum sich nach dem Ersten Weltkrieg so weite Teile der Bevölkerung vor den neuen politischen Freiheiten fürchteten.
Als eine Ursache führte er die autoritär-patriarchale Erziehung im Kaiserreich an. Da die Familie – und anschließend die staatlichen Institutionen – eine erdrückende Autorität auf die nachwachsenden Generationen ausübten, vermochten die Jugendlichen kein starkes Ich auszubilden, waren zwischen Es und Über-Ich, zwischen verdrängter, gleichwohl präsenter Libido und moralischer Außeninstanz zerrissen. Sadomasochistisch gelüstete es sie, sich einer Autorität zu unterwerfen und sie zugleich in Form zerstörerischer Gewalt gegen Schwächere auszuüben.
Mitte der Vierzigerjahre machte sich eine Gruppe deutscher Emigranten und Amerikaner am New Yorker Institut für Sozialforschung daran, eine Typologie des autoritären Charakters aufzustellen und sie zu einem Test auszuarbeiten. Er sollte ermitteln, in welchem Maße eine Gesellschaft für faschistische Strömungen anfällig war – wobei Faschismus synonym mit aggressivem Rassismus und reaktionärer Repression gesetzt wird. Während Reich und Fromm im Nationalsozialismus lediglich den Gipfel jahrhundertelanger Unterdrückung und Libidoversagung sahen, setzte man ihn in New York gewissermaßen absolut und sprach von einem Faschismussyndrom, das als „Potenzial“ nie früh genug diagnostiziert und bekämpft werden konnte, auch wenn der „Ausbruch“ vom politischen und sozialen Klima abhing. Fortan geriet jede Unterdrückung, jeder Libidoverzicht in den Verdacht, faschistisch zu sein.
Der „autoritäre Charakter“ wird als „Typus mit Variablen“ verstanden, dessen Denken und Verhalten die so genannte F-Skala (F für Faschismus) exemplarisch einzufangen sucht. Sie besteht aus 78 Aussagesätzen (nicht Fragen!), zu denen die Testpersonen mit jeweils bis zu zehn Punkten ihre Zustimmung oder Ablehnung markieren.
Neben der schon bekannten Verknüpfung von Autoritätshörigkeit und Aggressivität sind für den autoritären Charakter kennzeichnend: Konventionalismus, die Neigung zu Aberglauben und Stereotypie, Machtdenken und pseudozynische Akzeptanz der dunklen Seiten des Lebens, die Ablehnung jeder Beschäftigung mit sich selbst sowie eine gehemmte Sexualität.
Abgesehen von der herben Kritik, die die empirische Sozialforschung an der F-Skala übte, muss heute schon der Begriff des Charakters als eines festen Sets von Denk- und Verhaltensmustern auf Widerspruch stoßen. Denn an die Stelle jener im 18. Jahrhundert ausgebildeten Vorstellung vom Charakter als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“, ist in der Psychologie und in den anthropologischen Wissenschaften die Überzeugung von prägenden lebensweltlichen Kontexten und Umwelteinflüssen getreten, von einem stark situativ bedingten Verhalten – eine Ansicht, die inzwischen allerdings von Intelligenz- und Genforschern bestritten wird, denen zufolge die Persönlichkeit in der DNA programmiert ist.
Außerdem vermochte das Konzept des autoritären Charakters nie wirklich begreiflich zu machen, wie Hitler in Deutschland an die Macht gelangen konnte, warum so viele Menschen mit den Nazis sympathisierten und weshalb Tausende schließlich bereit waren, Menschen anderen Glaubens oder anderer ethnischer Herkunft zu töten.
Einzelne Merkmale des autoritären Charakters wie der im deutschen Reich ausgeprägte Autoritätsglaube tauchen in der Historiografie zum Dritten Reich noch auf, das Konzept jedoch wurde verworfen. Denn die Recherchen der letzten Jahrzehnte haben eine Vielfalt von Ursachen und Umständen, nicht zuletzt das Zufällige an mancher Haltung gegenüber der NS-Diktatur, zutage gefördert.
Sie haben uns damit vertraut gemacht, dass die Massenmörder „ganz normale Männer“ waren. Die Annahme eines faschistischen Charakters beruht somit auf einer simplification terrible, einer schrecklichen Vereinfachung. Adorno war sich sehr wohl bewusst, in welch gefährliche Nähe ihn die Typisierung zur nazistischen Schematisierung der komplexen Wirklichkeit brachte. Er rechtfertigte sich damit, dass er darin lediglich eine Folgeerscheinung der modernen, den Menschen standardisierenden Gesellschaft wahrnehme.
Sein hohes Maß an dialektischer Reflexivität ist bei heutigen Ideologiekritikern freilich kaum mehr anzutreffen. Ihr Beharren auf dem psychopathologischen Typus erweist sich als Ideologie in der Maske der Ideologiekritik. Etwa in dem trendsetzenden Versuch des Germanisten Klaus Theweleit, Autor der 1978 publizierten „Männerphantasien“, der an Schriftstellern, die ins Fahrwasser des Nationalsozialismus geraten waren, die psychischen Mechanismen soldatischer Männer in Anlehnung an Wilhelm Reich konstruierte. Oder in der kurzlebigen Spielart des Historikers Daniel Goldhagen, der die Deutschen (bis 1945) vom Antisemitismus wie von einer Art Virus heimgesucht sieht.
Und schließlich ist die Vorstellung eines faschistischen Charakters fragwürdig, weil es ein so einheitliches Phänomen namens Faschismus nicht gegeben hat. Zahlreiche Forschungen zu den modernen Komponenten im Nationalsozialismus, den erheblichen Unterschieden zum italienischen Faschismus, verdeutlichen, dass wir bis heute einer Propagandastrategie der Komintern aufsitzen. Diese hatte, um das Wörtchen Sozialismus im Namen des Feindes zu vermeiden, den italienischen Ausdruck Faschismus favorisiert und als Synonym für Kapitalismus, Imperialismus, Reaktion, Ungeist und Repression, zuletzt für Antisemitismus und Holocaust, durchgesetzt.
All das konnte und kann freilich nichts dagegen ausrichten, dass der faschistische Charakter nach wie vor in vielen Köpfen herumspukt. Er liefert eine gar zu griffige Antwort auf eine bedrängende Vergangenheit – und nun auch auf ein Problem unserer Zeit.
Versucht man seine Merkmale auf die rechtsextreme Szene heutiger Tage anzuwenden, so ergibt sich indes, dass es etwa jene autoritär-patriarchale Erziehung in Familie und Staat, die die Heranwachsenden ständig zu Respekt, Disziplin und Gehorsam anhielt, längst nicht mehr gibt.
Die heutigen Fünfzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen kennen bürgerlich „heile“ Familien allenfalls vom Hörensagen. Autorität identifizieren sie mit dem Zerrbild prügelnder Väter, denen sie als Erwachsene Paroli bieten können. Zudem kommt es wohl nur noch in Einzelfällen zu einer strengen Kontrolle, Unterdrückung des kindlichen Sexuallebens.
Fern liegt der Bundesrepublik jede repressive Autorität. Ihre Institutionen wollen das demokratische Zusammenleben vielmehr stärken. In der totalitären Deutschen Demokratischen Republik mangelte es zwar nicht an Repression, doch wegen ihrer offenkundigen Verlogenheit an – moralischer – Autorität im bürgerlich-patriarchalen Sinne. Wenn heute also antidemokratische Tendenzen in West und Ost grassieren, sind dafür schwerlich Restbestände der autoritär-patriarchalen Mentalität, eine psychische Deformation, verantwortlich zu machen.
Wer die F-Skala liest, wird überrascht sein, wie häufig er selbst faschismusverdächtig reagiert. Beispielsweise werden viele nur noch mit Vorbehalt der Ansicht zustimmen: „Der besondere Wert der fortschrittlichen Erziehung liegt in der großen Freiheit, die sie dem Kind gewährt, um jene natürlichen Impulse und Wünsche auszudrücken, die der konventionelle Mittelstand so oft mit Missfallen betrachtet.“ Auch wer nicht glaubt, dass Respekt und Gehorsam oberstes Gebot jeder Erziehung sind, wird sicherlich die Wichtigkeit von Respekt – gegenüber Menschen und Dingen – hoch (zumindest höher als früher) veranschlagen.
Was in den Zwanzigerjahren als Abwehr aus Ich-Schwäche galt, drängt sich seit den Achtzigern als Erkenntnis aus der antiautoritären Erziehungspraxis auf: innere Freiheit, Ich-Stärke entstehen nicht durch Aufhebung von Autorität. Entweder sind wir somit faschistischer denn je, die rechtsextreme Szene käme tatsächlich „aus der Mitte unserer Gesellschaft“ – einzig die Gutmenschen unter uns entgehen ja beim F-Test dem Verdikt potenzieller Faschistizität –, oder aber die Erfahrung der NS-Diktatur trieb in der F- Skala solche Blüten, dass alles, was nicht ostentative Freiheits- und Nächstenliebe, Demokratiebegeisterung und Friedfertigkeit war, als Bedrohung aufgefasst wurde.
Außerdem ist für die rechtsextremen Jugendlichen zwar die Übereinstimmung mit dem Milieu (Konventionalismus) wichtig, aber sie erstreckt sich nicht mehr auf Werte, sondern allein auf rassistische und politische Vorurteile des Kleinbürgertums. Und vor allem schließt sie nicht die für den faschistischen Charakter so wesentliche Fassade spießiger Wohlanständigkeit ein.
Im Gegenteil, die pathologische Anomalie steht den Rechtsextremen ins Gesicht geschrieben. Bei ihnen braucht der Typus nicht erst diagnostiziert zu werden, sie entschieden sich in einer Phase jugendlicher Identitätssuche für einen, modellierten ihren Körper nach einer Quasiuniform: Sie scheren sich Glatzen, lassen sich tätowieren, schlüpfen in Springerstiefel und Bomberjacken. Unter Hitler hätten sie als „schädliche Elemente“ gewiss zu den ersten Opfern gehört.
Im Gegensatz zum faschistischen Charakter prägt die rechtsextremen Jugendlichen zudem kein Sadomasochismus. Bei ihnen ist die destruktive Aggressivität nicht mehr komplementär zu blinder Unterwürfigkeit. Daher hinkt der besonders für die Verhältnisse im Osten verlockende Vergleich mit den antidemokratischen Bünden in der Weimarer Republik. Auch heute finden sich Menschen nach dem Zusammenbruch eines politischen Systems in der neuen Ordnung nicht zurecht, aber es herrscht weder Chaos noch droht eine kommunistische Revolution. Noch weniger wäre die Aggressivität der Rechtsradikalen „politisch-revolutionär“ im Kampf um eine Erneuerung der Gesellschaft motiviert.
Es sind Akte reiner und sinnloser Destruktivität gegen Schwächere, Einzelne. Sie stellen uns weniger vor das Problem der Vergangenheitsbewältigung als vor das der Aggression, der die westlichen Gesellschaften offenbar nicht ausreichend Ventile bieten. Zu den Gewalttaten kommt es oft zufällig aus Langeweile. Unter dem Einfluss von Alkohol, einhämmernden Slogans und unter dem Druck der Horde, zu der sie sich zusammenrotten, gelangen die Jugendlichen in einen Zustand äußerster Enthemmtheit, in dem sie nur noch aufs Zerstören aus sind.
Seine Lust bezieht ein solcher Sadismus nicht aus der plötzlichen Befreiung lang unterdrückter Energien, sondern merkwürdigerweise aus dem Kaputtschlagen selbst. Eindrücklich schildert etwa Bill Buford (in seinem vor drei Jahren erschienenen Buch „Geil auf Gewalt. Unter Hooligans“), wie die Gewalt auf englische Hooligans gleich einer Droge wirke, die sie aus dem Alltag reißt, ihnen ein „bewusstseinsveränderndes Erlebnis“ beschert, „eine vom Adrenalin bewirkte Euphorie, die vielleicht um so stärker ist, weil der Körper selbst sie hervorbringt“, und die sie süchtig macht – bis die Rückkehr unter Menschen ausgeschlossen ist.
Der Begriff vom faschistischen Charakter passt also auch auf die rechtsextreme Szene nicht. Wenn man dieser weiterhin mit sozialpsychologischen Methoden zu Leibe rücken will, was naheliegt, nachdem weder die ökonomisch-sozial orientierten Recherchen noch die These der Modernisierungsverlierer Einsichten gebracht haben, wären erst einmal genauere Feldstudien vonnöten, die hinter die Fassade von Aggression und NS-Slogans blicken.
Ganz allgemein betrachtet könnte vielleicht der Typus des Aussteigers Anhaltspunkte bieten, nur dass sich bei den rechtsextremen Jugendlichen die Verweigerung als aggressive Bejahung der Feindbilder unserer Gesellschaft äußert.
Auf jeden Fall käme die Auseinandersetzung mit den rechtsextremen Jugendlichen schon dadurch einen Schritt voran, dass sie den Diskurs der Vergangenheitsbewältigung und Betroffenheit verlässt und sich auf eine Ursachenforschung verlegt, die die spezifischen Schwierigkeiten unserer westlichen Welt bedenkt.
FRANZISKA MEIER, Jahrgang 1964, lebt in München und arbeitet als Privatdozentin für Romanische Philologie an der Universität Passau. Ihr letztes Buch erschien unter dem Titel „Emanzipation als Herausforderung. Rechtsrevolutionäre Autoren zwischen Bisexualität und Androgynie“ im Böhlau-Verlag, Wien 1998, 410 Seiten, 50,10 €. Eine ausfühlichere Version ihres Texte zum faschistischen Charakter erschien im Juli vorigen Jahres in der Nr. 627 der Zeitschrift Merkur
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