: Nachts gelten andere Regeln
Die Stadt Ramallah im Westjordanland ist zum Teil wieder von israelischen Soldaten besetzt. Panzer fahren durch die Straßen. Tagsüber bleibt es weitgehend ruhig. Doch wenn es dunkel wird, beginnen die Angriffe palästinensischer Guerillagruppen
aus Ramallah PETER SCHÄFER
Israelische Panzer haben sich dem Hauptquartier von Jassir Arafat in Ramallah von drei Seiten bis auf 100 Meter genähert. Der Palästinenserpräsident darf die Stadt seit Anfang Dezember nicht mehr verlassen. Erdwälle wurden aufgeschüttet. Die palästinensischen Bewohner des Stadtteils Irsal können sich nur noch zu Fuß fortbewegen. Aber die Straßen sind von den Panzerbewegungen sowieso teilweise verwüstet, Strommasten liegen am Boden. Einige Wohnungen sind von israelischen Scharfschützen übernommen worden. Die Bewohner mussten flüchten.
Schahir asch-Schafi betreibt zusammen mit seinem Bruder einen kleinen Supermarkt direkt an der Panzerstellung. „Das hat sich mittlerweile zur Normalität entwickelt“, sagt der 25-Jährige und deutet nach draußen. Anwohner gehen vorsichtig an den Soldaten vorbei, um bei den Schafis Großeinkauf zu machen. Sie tauschen nüchtern die neuesten Informationen aus. Welche Seitenstraßen sind noch befahrbar? Wie geht es Bekannten in anderen Stadtteilen? Wo sind noch größere Vorräte an Mehl, Zucker und Salz zu kaufen? Aber Tagesthema ist die Wiederbesetzung von Tulkarem vom Montagmorgen. „Wir in Ramallah müssen uns jetzt auch darauf einrichten, mit der Militärpräsenz und permanenten Konfrontationen zu leben“, meint Schahir. Vor sieben Jahren erst hat Israel die Stadt an die Palästinenser übergeben.
Seit letzten Herbst ist das nun schon die dritte Invasion, aber so weit sind die Soldaten noch nie vorgerückt. Über die Hälfte der Stadt ist unter Besatzung. Arafat hat befohlen, keinen Widerstand zu leisten, und tagsüber ist es weitgehend ruhig. Aber in der Nacht gelten andere Regeln. Polizisten, die die Anordnungen Arafats durchsetzen könnten, sind keine zu sehen. Mit Skimasken und Palästinensertüchern vermummte Guerilleros bewegen sich in Kleingruppen durch die noch „freien“ Viertel und schießen von hier aus auf die Panzer. Die antworten umgehend mit ihrer Kanone und dem schweren Maschinengewehr.
Wer nach neun Uhr abends noch auf der Straße sein muss, nutzt deshalb die Deckung von Häusern und Mauern. Im christlichen Ain-Misbah-Viertel flüchten sich die Bewohner der dreistöckigen Gebäude hinter ihre Häuser. An die dreißig Menschen stehen dicht gedrängt im Regen, um den Soldaten kein Ziel zu bieten. Ein ohrenbetäubender Schuss aus einer Panzerkanone. Alle zucken zusammen. Kleine Kinder schreien.
George Arij will sein Haus in Ain Misbah nicht verlassen, auch wenn Israel die ganze Stadt besetzt. „Wo sollen wir denn hin?“, fragt er. Der 69-Jährige kommt ursprünglich aus dem heutigen West-Jerusalem. Israels Ministerpräsident will die ganzen Palästinensergebiete, da ist er sich sicher. Dabei wäre Frieden seiner Ansicht nach „in fünf Minuten“ zu machen. „Scharon könnte einfach sagen: ‚Wir leben in Israel, hier habt ihr euer Palästina, bye-bye‘.“ Chancen darauf rechnet er sich allerdings keine aus.
„Wir Palästinenser wollen in Frieden leben, genauso wie die Israelis“, sagt Arij. „Das sage ich immer meinen Enkeln.“ Die können die Panzer jetzt vom Wohnzimmerfenster aus sehen. Wegen der Schusswechsel und den röhrenden Panzermotoren ist an Schlaf nicht zu denken. „Die Kinder haben Angst, mein Sohn kann nicht zur Arbeit, uns geht es immer schlechter. Wenn ich meiner Familie was vom Frieden mit den Israelis erzähle, dann verdrehen die ihre Augen.“
Am Hauptquartier von Arafat gibt man sich unterdessen locker. Mussalem ist einer der dortigen Wachhabenden. Normalerweise steht er vor dem Tor. Das ist nun aber in der Schusslinie der Panzer, und Mussalem kontrolliert die ein- und ausfahrenden Fahrzeuge innerhalb des Komplexes. „Ich habe keine Angst“, sagt Mussalem und pocht auf seine Kalaschnikow. „Die sollen nur kommen.“
Da peitschen Schüsse. Offenbar nutzen palästinensische Guerillagruppen den immer wieder aufziehenden Nebel als Deckung. Die Israelis reagieren diesmal nicht. Sie schließen einfach die Luke ihres Panzers. Und Mussalem verzieht keine Miene, sondern fährt fort: „Ich lasse mich nicht noch einmal vertreiben.“ Seine Familie musste 1948 aus Nazareth flüchten. Aber was will er mit seinem Gewehr gegen die israelischen Panzer ausrichten? „Ich bleibe hier stehen“, anwortet er. „Ich gehe nicht noch einmal weg, wohin auch?“ Eine Zigarette lehnt er ab. „Das ist schlecht für die Gesundheit.“
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