: Das erotische Kopftuch
Mohammed hatte 13 Frauen. Und Jesus? Über Orientalismen und die Zärtlichkeit der Religionen
von URSULA MIHCIYAZGAN
Der Orientalismus des Westens scheint einigermaßen aufgearbeitet. Schwülstige Haremsszenen stellt sich beim Thema Sexualität und Islam heute kaum jemand mehr vor. Stattdessen regiert das Bild des Kopftuchs als vermeintlicher Ausdruck eines rigiden und lustfeindlichen Islam. Es könnte sein, dass auch dieses Bild mehr über den (christlich geprägten) Betrachter aussagt als über seinen (muslimischen) Gegenstand.
Welches Verhältnis haben die beiden Religionen zur Sexualität? Beiden gilt Sexualität als lebensbestimmende Energie, doch wird sie diametral entgegengesetzt bewertet. In der christlichen Lehre ist sie eine Energie, die die Gläubigen vom gottgefälligen Leben ablenkt, in der islamischen Lehre dagegen eine Energie, die ihren festen Platz in der Gott wohlgefälligen Ordnung hat.
Diese Differenz lässt sich an den Darstellungen des Lebens der zentralen Personen in beiden Religionen ablesen.
Das Leben Jesu ist ohne Sexualität und ohne Erotik. Jesu Körperlichkeit – sein Leib – ist nicht mit Lust, sondern mit Leiden assoziiert. Im gesamten Neuen Testament lassen sich daher kaum Hinweise darauf finden, dass Jesus andere körperlich berührt hätte. Überliefert ist vielmehr, dass er Frauen wie Männern gegenüber eine „geschwisterliche Liebe“ empfand. Wenn er sie berührte, dann nur, um sie mit einer minimalen Handbewegung zu heilen oder zu segnen.
Im Gegensatz dazu finden wir in den Geschichten aus dem Leben des Propheten Mohammed zahlreiche Hinweise auf körperliche Kontakte, die meisten sind erotischer Art. So wird berichtet, dass er sich von Frauen angezogen fühlte und seine Frauen liebte. Wenn er nach seiner Ehe mit Hadidscha, einer älteren und wohlhabenden Kauffrau, weitere Frauen heiratete, steht dies nicht im Gegensatz zu seinem Auserwählten-Status, sondern unterstreicht ihn. Auch dass er in den Armen seiner Lieblingsfrau Aischa eine Offenbarung empfangen haben soll, akzentuiert die enge Verknüpfung von göttlichen Zeichen und diesseitigem Wohlgefühl im Islam.
Aufgrund dieser Vorgaben in den Texten wurde die Lehre vom Umgang mit Sexualität in beiden Religionen in der Folge – auf diametral entgegengesetzte Weise – nicht nur systematisiert, sondern auch radikalisiert.
Hatte Paulus schon große Mühen, den urchristlichen Gemeinden zu vermitteln, dass Sexualität ausschließlich in der Ehe ihren Platz hätte und dass selbst in der ehelichen Gemeinschaft, in der beide „ein Fleisch“ würden, ein „Leben im Fleisch“ „sündig“ und „geistlos“ sei und gar das „unbefleckte Ehebett“ (Heb. 13,4) anzustreben sei, so wurde durch Augustinus Sexualität vollends als Werk des Teufels definiert: der Fortpflanzungsauftrag war künftig ohne jede unzüchtige Lust zu erfüllen.
Im Islam war es al-Gazali, der späthellenistische Einflüsse wie etwa asketische Lebensregeln zurückdrängte und die sexuellen Wonnen eindeutig dem Paradies zuordnete. Der Mann solle etwa der Frau alle vier Nächte beiwohnen, er solle sich ihr stets mit liebkosenden Worten und Küssen nähern. War schon im Koran die eheliche Sexualität als Gnade Gottes (30,21) dargestellt, so legte er Gewicht darauf, dass die sexuelle Energie Ausdruck und Wille des Schöpfers sei.
Fragen der Sexualität nehmen bis heute einen wichtigen Raum in der religiösen Lehre ein. So ist die Heirat jedes Gläubigen göttliches Gebot und der Zölibat strikt abzulehnen – der arabische Begriff nikah bedeutet im Übrigen sowohl „Heirat“ als auch „Koitus“. Genauso wichtig ist in der islamischen Lehre allerdings, dass Sexualität ausschließlich innerhalb der Ehe stattfinden darf, alles andere gefährdet die Gott wohlgefällige Ordnung. Deshalb soll außerhalb der Ehe keine sexuelle Anspielung sichtbar werden – denn schon eine Berührung zwischen Mann und Frau könnte zum gesellschaftlichen Chaos, fitna, führen.
Die Konkretheit der islamischen Lehre hat die Christenmenschen seit jeher irritiert, eben weil in der christlichen Lehre „fleischliche“ Dinge stets mit der Sünde assoziiert waren. Die sprichwörtliche Leibfeindlichkeit führte allerdings zu einer umso intensiveren Beschäftigung mit dem Objekt „Körper“ – und zu einer ausgeprägten Fantasie der Erotik.
Die verschiedenen Auffassungen haben durchaus heute noch ihre Nachwirkungen im Alltag: etwa, wenn Liebende in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten austauschen. Bei westlichen Liebespaaren bedeuten sie meist lediglich: Seht, wir gehören zusammen. Eine obszöne Bedeutung haben sie nicht. Der direkte, für andere sichtbare Körperkontakt – erst recht ein Kuss – hat für Muslime dagegen etwas Unziemliches. Denn jede Berührung zwischen Mann und Frau wird im Hinblick auf einen Prozess, der in der körperlichen Vereinigung kulminiert, gedeutet. Um andere nicht zu verführen und damit Aufruhr zu stiften, sind solche Anspielungen zu vermeiden.
Deshalb gilt in muslimischen Gesellschaften das Prinzip der Geschlechtertrennung (auch wenn es zunehmend unter Druck gerät). Und es führte dazu, dass eine erotische Kunst sich kaum entwickelt hat. Wenn die erotische Spannung durch das andeutende Spiel mit dem verbotenen Verborgenen entsteht, ist die Leibfeindlichkeit des Christentums ein fruchtbarer Nährboden, nicht aber die erlaubte Sexualität in der islamischen Ehe. Die Präsenz sexueller Themen in der klassischen arabischen Literatur würde ich daher im Gegensatz zu vielen Autoren nicht als Beweis einer erotischen Kultur deuten, sondern als Ausdruck der Nicht-Tabuisierung der Sexualität.
Das „Kopftuch“, das die Reize des weiblichen Körpers umhüllt und im Westen als lustfeindlich empfunden wird, ist für Muslime eher mit Erotik als Kunst des Verborgenen verknüpft als etwa der wenig verhüllte Bauchtanz. Anders formuliert: Bauchtänzerinnen sind für Muslime so erotisch oder frivol wie für westlich Geprägte nackte Paare am FKK-Strand.
Die westliche Wahrnehmung des Bauchtanzes als besonders erotisch, als Spiel mit dem Verbotenen, das ist Orientalismus. Das Kopftuch nicht als Zeichen der Lust, sondern als lustfeindlich wahrzunehmen, das ist der neue Orientalismus.
Ursula Mihciyazgan ist Soziologin und forscht über Kultur- und Geschlechterdifferenzen
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