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Über das Töten auf offener Bühne

Die Täter gestalten ein Stück, bei dem sie selbst im Mittelpunkt stehenEntscheidend ist das mediale Echo – einmal berühmt sein und dann sterben

von MARTIN ALTMEYER

Weshalb geht der 19-jährige Robert Steinhäuser, der schon einmal durchs Abitur gefallen war und den zweiten Versuch nicht machen konnte, weil er von der Schule verwiesen worden war – weshalb geht dieser Junge, der seinen Eltern den Schulverweis schamhaft verheimlicht hatte, am Tag der Abiturprüfung in sein Gymnasium zurück und ermordet zwölf Lehrer sowie vier weitere Menschen, die ihm im Weg standen, bevor er sich selbst hinrichtet? Weshalb verkleidet er sich als Ninja-Kämpfer, zieht eine schwarze Maske über und durchkämmt systematisch, wie ein Kombattant im Bürgerkrieg, die Gänge des Schulgebäudes, bei seiner mörderischen Verrichtung Furcht, Schrecken und lähmendes Entsetzen verbreitend?

Jedes Verbrechen ist eine Einzeltat, der Täter folgt seinem eigenen Drehbuch, er handelt auf eigene Faust und Rechnung, er trägt die persönliche Verantwortung für das, was er tut. Nach alldem können wir Robert Steinhäuser freilich nicht mehr befragen. Aber wir können die dramatische Tat selbst danach befragen, welches Muster sie trägt und welcher inneren Logik sie folgt, was sie für den Täter womöglich bedeutet, welche existenziellen Bedürfnisse sie zu befriedigen, welche Größenideen sie auszudrücken vermag. Und wir sollten uns alle fragen, worum es bei dieser Inszenierung eigentlich ging, welche unbewussten Botschaften an die Welt sie enthält.

Schauen wir auf ein vergleichbares Tatmuster, das wir seit einiger Zeit aus den USA kennen. In der Santana-Highschool von Santee / California schoss am 5. März 2001 Charles Andrew Williams mit einem Revolver um sich und tötete zwei seiner Mitschüler. Der Sheriff, der den 15-jährigen Täter schließlich festnahm, verwies auf das öffentliche Aufsehen, das sich im spektakulären Polizeieinsatz und durch die Präsenz der Medien manifestierte und das dem Objekt des Interesses sichtlich zu gefallen schien: „He was … I don't want to say enjoying, but he was not unhappy with the celebrity he was receiving.“ In Vorankündigungen seiner Tat, die ihn weit über die Grenzen seiner Kleinstadt hinaus berühmt machen sollte, hatte der Junge auf das Columbine-Highschool-Massaker in Littleton / Colorado verwiesen, das zwei Jahre zuvor, am 20. April 1999, das Land erschüttert hatte; damals hatten zwölf Schüler und ein Lehrer in einer zum Teil vom Fernsehen übertragenen Schießerei ihr Leben verloren, darunter auch die beiden Schützen, die sich am Ende selbst umbrachten. Das Time-Magazine vom 19. März 2001 brachte seine Titelgeschichte unter die Überschrift „The Columbine Effect“ und listete in einer „Trefferliste des Hasses“ (scorecard of hatred) vergleichbare Vorfälle nach Littleton auf. In den beiden Tagen, die auf die tödliche Schießerei in Santee folgten, wurden alleine in Kalifornien 16 weitere Schüler verhaftet, weil sie Waffengewalt androhten oder Schusswaffen in die Schule mitbrachten. Nach einer Gedenkfeier für die Opfer von Santee schoss in der katholischen Highschool von Williamsport / Pennsylvania die Achtklässlerin Elisabeth Catherine Bush auf eine Klassenkameradin und war damit das erste Mädchen, das sich an den in Mode gekommenen Schießereien an amerikanischen Schulen beteiligte.

Highschool shooting ist kein martialisches Computerspiel, sondern die Kurzformel für ein mörderisches Spektakel, das in den USA seit einiger Zeit immer wieder für mediale Aufmerksamkeit sorgt. Es handelt sich um die schulische Variante eines neuen Verbrechenstypus, der mit dem Begriff des rampage killing nur allzu treffend bezeichnet wird. Die Taten finden erstens am helllichten Tage statt, gewissermaßen auf offener Bühne, vor Publikum und – in einigen Fällen – sogar vor laufenden Kameras. Die Orte des Verbrechens sowie die Zeitpunkte sind zweitens so gewählt, dass es möglichst viele Zeugen gibt – öffentliche Plätze, Hauptverkehrsstraßen, Betriebe, Kindergärten, der Campus. Es gibt drittens keinen Versuch der Verheimlichung, des Versteckens oder gar Entkommens, im Gegenteil: Den Tätern – meist sind es Einzeltäter – geht es ganz offensichtlich darum, gesehen zu werden, bevor sie sich dann selbst umbringen oder im Kugelhagel der Sicherheitskräfte provozierten Suizid begehen. Und viertens wirken die monströsen Taten merkwürdig unmotiviert, die Beweggründe liegen häufig im Dunkeln und lassen sich auch im Nachhinein selten aufklären – zumindest bleibt die Suche nach dem klassischen Motiv des Kapitalverbrechens (Liebe oder Geld), der gängigen sozialen Depravation (Armut, Elend, Verzweiflung) oder der persönlichen Psychopathologie (Psychose, Borderline-Störung) in aller Regel erfolglos. Die übliche Ursachenforschung, ob kriminologischer, sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Provenienz, ist bei diesem Tatmuster an ihre Grenze geraten, sodass die hilflosen Forscher gerne von „Taten ohne Motiv“ oder „motivloser Gewalt“ sprechen.

Es sind die situativen Faktoren selbst, die all diesen Taten eine zeitgenössische Textur geben. In den meisten Fällen waren die Mörder vorher unauffällig, auch wenn Kränkungserfahrungen in der Vorgeschichte häufig nachzuweisen waren. Niemand aus ihrer Umgebung hätte ihnen das wirklich zugetraut, auch wenn einige von ihnen ihre Taten angekündigt hatten. Aber alle hatten sie offenbar ein starkes Bedürfnis, sich öffentlich in Szene zu setzen. Sie gestalteten – als Drehbuchautoren, Regisseure und Hauptdarsteller in Personalunion – ein Stück, bei dem sie selbst im Mittelpunkt standen und die anderen zu Opfern, Mitspielern oder Zuschauern machten. Sie bedienten sich dabei des Publikums als Medium einer Selbstinszenierung, welche die eigene Bedeutung zum Thema hatte – und für die sie die Vorbilder aus einer durchmedialisierten Welt nahmen: aus martialischen Videospielen, aus den Gewaltfilmen des Action-Kinos, aus den interaktiven Formaten des entfesselten Fernsehens. Für die Dauer der Aufführung waren sie der Anonymität des trostlosen Alltags entronnen und hatten im Auge der Fernsehkamera, im Blitzlicht der Pressefotografen, in den imaginierten Schlagzeilen des folgenden Tages so etwas wie Identität gewonnen. Im finalen Akt der Auslöschung der anderen, der zugleich ein Akt der Selbstvernichtung war, durften sie sich des Interesses einer Umwelt sicher sein, die sie sonst wahrscheinlich nie beachtet hätte.

War nicht auch Robert Steinhäusers „mörderischer Abgang“ (so die Überschrift der aktuellen Titelgeschichte des Spiegel) eine grandiose Aufführung, die dem Darsteller erst jene Berühmtheit verschaffte, von der er zuvor nur hatte träumen können, die seinem privaten Hass eine öffentliche Bedeutung verlieh, an die keine Fantasie herankam – und die jetzt vielfältig dokumentiert ist in den Wochenendausgaben der Tageszeitungen, in den Live-Fernsehbildern des Entsetzens, in langen TV-Debatten und Expertenbefragungen, in detailversessenen Schilderungen des Tathergangs, ergänzt durch biografische Rekonstruktionen und ausgefeilte Psychogramme? Aus diesem Blickwinkel betrachtet, scheint die Frage nach den Ursachen der Tat weniger erhellend als die nach den Wirkungen, auf die sie abzielt: gesehen werden, Aufmerksamkeit gewinnen, Beachtung finden. Rückmeldungen besonderer Art werden hier gesucht, die sich zunächst aus der Angst und Ohnmacht der Opfer ergeben und ein grandioses Gefühl eigener Macht vermitteln. Entscheidend aber ist das zu erwartende mediale Echo, das identitätsstiftend wirkt und im vorfantasierten postumen Nachruhm Unsterblichkeit verheißt – einmal berühmt sein und dann sterben.

Gewiss, man könnte dem Erfurter Schüler die Individualdiagnose einer schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung anheften. Das Tatgeschehen ließe sich dann im Schema von narzisstischer Kränkung und kompensatorischer Wut interpretieren: Das verletzte Selbstgefühl kuriert sich in einem absoluten Vernichtungswillen, der sich in eliminatorischer Konsequenz gegen die vermeintliche Quelle der Kränkung richtet, im konkreten Fall gegen die Lehrerschaft in einem tödlichen Rachefeldzug. Aber die hochempfindliche Reizbarkeit, die Bereitschaft zur Aggression und maßlosen Gegenaggression scheint ebenso zur Ausstattung des zeitgenössischen Sozialcharakters zu gehören wie das unstillbare Bedürfnis nach medialer Spiegelung. Der pathologisch entgleiste Narzissmus lebt – wie auch der mediale Narzissmus, der uns in den Kapriolen des postmodernen Alltags begegnet – unbewusst von der Echo- und Spiegelwirkung, auf die er heimlich spekuliert: Videor ergo sum – ich werde gesehen, also bin ich!

Insofern können wir durch die Analyse des rampage killing etwas über reflexive Mechanismen der Identitätsfindung erfahren. Ausgerechnet Gewalttätigkeit – aus der Mitte unserer Gesellschaft, nicht von ihren Rändern kommend – erfährt in den unzähligen Resonanzräumen der Postmoderne eine rückkoppelnde Verstärkerwirkung, die ihresgleichen sucht. Durch mediale Spiegelung mit identitätsbildender Kraft ausgestattet, erzeugt sie eine celebrity der besonderen Art: Timothy McVeigh, jener rechtsradikale Desperado, der in einem öffentlichen Gebäude die Bombe gelegt hatte, die 168 Menschen das Leben kostete, genoss noch die Bühne seiner öffentlichen Hinrichtung, bei der so viele zusehen wollten – und das Publikum war ihm Partner bei der grandiosen Szene, im moralischen Sadismus seinem krankhaften Hass näher, als es ahnte. Der Vorsprung Amerikas schrumpft, nach Nanterre und Erfurt.

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