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„Bitte machen Sie Platz“

Chronik einer angekündigten Deeskalation: Am 1. Mai hielt sich die Polizei sichtbar zurück. Erst als sie am Abend immer wieder angegriffen wird, greift sie auf die alte, teils rüde Vorjahrsroutine zurück

14.40 Uhr: Deeskalation heißt nicht Abwesenheit. Bereits im Vorfeld der Demonstrationen kommt es zu Polizeikontrollen, vor allem in Mitte. Autos werden nach Waffen und anderen gefährlichen Dingen durchsucht.

16.00, Mitte: Die Polizei ist nicht zu übersehen. Überall Räumpanzer, Wasserwerfer, Polizeieinheiten aus Berlin, Bochum, Mainz. Doch zum Rosa-Luxemburg-Platz hin ist immer weniger von ihnen zu sehen.

17.15, Manteuffel-, Ecke Skalitzer Straße: Polizisten, die die Demos durch Kreuzberg begleiten, tragen Baretts statt Helmen. Nur der Hubschrauber über dem Zug stört das friedliche Bild. „Wenn ich den nochmal so dicht bei sehe, werde ich krötig“, funkt der Einsatzleiter an die Zentrale. Der Helikopter dreht ab.

19.30, Rosa-Luxemburg-Platz: Die dritte Demo zieht los. Polizei ist nur in den Seitenstraßen, dort aber massiv präsent.

19.30, Mariannenplatz: Volksfestatmosphäre im Park. Plötzlich fliegen ein paar Steine, das erste Auto brennt. Polizisten tauchen samt Wasserwerfern wie aus dem Nichts auf. Nach zehn Minuten ist der Platz eingekesselt. Auch aus Fenstern und von Balkonen fliegen vereinzelt Steine und Flaschen.

20.30, Brückenstraße: Die Spitze der dritten Demo kommt ins Stocken. Die Polizei leitet sie um. Trotz Stein- und Flaschenwürfen reagiert die Polizei nicht. Die Situation beruhigt sich.

20.40, Michaelkirchplatz: Die Demo wird von Mannschaftswagen und Räumpanzern gestoppt. Ein Beamter sagt zu einer Frau von der Antifaschistischen Aktion: „Verschwindet von hier, ab jetzt gelten keine Absprachen mehr.“ Eine Polizeidurchsage verwirrt: „Ziehen sie von sich aus gesehen nach links ab!“

21.00, Waldemarstraße: Drei Polizisten aus Bayern versperren die Straße. Eine Anwohnerin will passieren. „Nix. Ich lass’ hier keinen mehr rein“, sagt ein Beamter. „Oder raus“, ergänzt der andere. Während die Frau ungehindert vorbeizieht, diskutieren die Polizisten über „rein oder raus?“. Dann einigen sie sich: „Wir lassen jetzt keinen mehr vorbei.“

21.05, Michaelkirchplatz: Die Demo wird aufgelöst. Die Beamten lassen Demonstranten nur nach Norden abziehen. Nach Kreuzberg soll niemand.

21.15, Oranien-, Ecke Adalbertstraße: Hunderte schlendern entspannt auf den Straßen. Dazwischen stehen Gruppen von Polizisten. Ab und an bitten sie Passanten höflich, die Kreuzung freizumachen. Ein Beamter tippt amüsiert auf seinem Handy. In Höhe der Waldemarstraße sieht man den Wasserwerfer spritzen. An der Gelassenenheit auf der Kreuzung ändert das nichts.

21.20, Michaelkirchplatz: Die Augen eines Fast-zwei-Meter-Polizisten aus Mecklenburg-Vorpommern schweifen unsicher über die nicht weniger verunsicherte Menge. Ein betrunkener Jugendlicher torkelt heran. „Ich habe ja nichts gegen euch Bullen“, ruft er dem Beamten zu. „Ich habe zwar einen Stein in der Tasche, aber den werfe ich nicht – außer wenn ich angegriffen werde.“ Der Beamte reagiert nicht. Am nördlichen Platzende werden gerade Kollegen mit Steinen beworfen. Ein Auto wird angezündet, ein weiteres umgeworfen. Die Einheit aus Mecklenburg-Vorpommern wartet ab. Erst kurz bevor die Wasserwerfer losschießen, greift sie zu: Etwa 30 Demonstranten, die eine Sitzblockade abhalten, werden getreten, geschubst, weggezerrt.

21.30, Heinrichplatz: Wannen fahren vorbei. Sie verzichten, wie zumeist am ganzen Abend, auf Blaulicht und Sirenen.

21.30, Adalbertstraße: Hunderte meist türkische Jugendliche versammeln sich. Einige treten gegen eine bereits zerstörte Bushaltestelle. Andere graben Steine aus und legen sie wieder ab, weil ein Ziel fehlt. Vom Wasserwerfer in der Waldemarstraße ertönt per Lautsprecher die Bitte, Steinwürfe zu unterlassen. Die Menge gröhlt. Als nichts passiert, wird nochmals die Haltestelle getreten. Keine Reaktion der Polizei. Schließlich rennen die Jugendlichen zum Wasserwerfer, der lässt sich zu einem halbherzigen Wasserstrahl herab.

21.45, Mariannenplatz: Ein einsamer Papierkorb brennt. Polizisten überqueren den leeren Platz. Sie treten das Feuer aus.

21.50, Waldemarstraße: „Bitte machen Sie den Weg frei“, heißt es aus einer Polizeiwanne. Die Leute treten zur Seite. „Danke“, sagt die Polizei und fährt vorbei.

21.50, Adalbertstraße: Es wird getanzt: „I shot the sheriff, but I didn’t shoot the deputy“, tönt Bob Marley aus an Fenstern aufgestellten Boxen. Neben den Tanzenden liegt ein umgeworfener Geländewagen, die Polizei hat einen Wasserwerfer auf die Menge gerichtet und hält die Oranienstraße abgesperrt. Dort rennen Bundesgrenzschützer mit Kampfgeschrei auf und ab, versuchen Schaulustige zu vertreiben. Doch die kommen immer wieder aus Häusern und Kneipen, kaum dass ihnen die Beamten den Rücken zudrehen.

22.00, Mariannen-, Ecke Naunynstraße: Ein türkischer Kioskbesitzer macht das Geschäft seines Lebens. Ein paar Stammgäste schauen das Champions-League-Halbfinale zwischen Madrid und Barcelona. Draußen fliegen Steine, ein Wasserwerfer räumt die Straße. Schaulustige flüchten in den Kiosk. Beamte rennen vorbei, versuchen nicht – wie sonst üblich – Flüchtenden hinterherzustürmen und ein paar zusammenzuschlagen.

22.00, Wiener Straße: Vor der Feuerwache versammeln sich 500 Menschen zur Kundgebung der Spaßpartei KPD/RZ. „Wir sind mehrere 10.000“, schallt es über die Straße, die Stimmung ist angeheitert: „Schluss mit dem Pollenterror, Pollen raus“, wird skandiert. Gegenüber sitzen Polizisten aus Thüringen ohne Helme locker in ihren Fahrzeugen.

22.45, Wiener Straße: Vermummte werfen Steine auf die Mannschaftswagen aus Thüringen. Bei der hektischen Flucht krachen zwei Wagen ineinander. Gejohle am Straßenrand. Kurze Zeit später rücken gepanzerte Einheiten an, die Zeiten der Deeskalation sind vorbei: Auch friedliche Kneipenbesucher werden unsanft die Straße entlanggetrieben.

00.15, Skalitzer-, Ecke Wiener Straße: Immer wieder hatte die Polizei versucht, die Kreuzung von Schaulustigen zu räumen, war dabei aber nie besonders koordiniert oder mit Schlagstöcken vorgegangen. Der einsetzende Regen kommt zu Hilfe, langsam leert sich die Straße.

0.45, Oranienstraße: Beamte aus Brandenburg bilden eine Barriere. Niemand darf vom Oranien- zum Heinrichplatz und umgekehrt. Trotz des Regens verteidigen sie ihre Stellungen, vor allem gegen Anwohner, denen auch ein Ausweis nichts nützt: „Tut mir leid, ich bin hier nicht ortskundig“, lautet die Antwort auf den Wunsch, nach Hause gehen zu dürfen. DHE/GA/HEIMAX/PLU/ROT/WERA

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