: Wenn Gott die Zukunft gibt
In Ägypten stagniert die Gesellschaft, weil das Heil aus dem Jenseits kommt und nicht der Mensch sein Schicksal in die Hände nimmt. So bleibt die Verzweiflung zu ertragen
Wie in den meisten ausufernden Metropolen der Schwellenländer stehen auch in der Weltstadt Kairo die Symbole und Lebensstile einer modernen Dienstleistungsgesellschaft neben den Darstellungen und Vorstellungen aus vorindustrieller Zeit. Verschwendung und Knappheit, Luxus und Armut wohnen Tür an Tür. Das quirlige Geschäftsleben in Mohandseen, Zamalek und anderen Kairoer Geschäftsvierteln ist ein wichtiger Ausschnitt ägyptischer Realität – aber ein geringer. Und selbst wo die dünne prosperierende Oberschicht das Geschehen prägt, sind Denken und Zeitplanung nicht individualistisch-westlich. So sehr dieser Lebensstil eine Wohlstandskluft zwischen ihren Vertretern und der breiten Bevölkerung offenbart, so breit klafft oftmals auch der Spalt zwischen modernem Lebensstil und traditionellem Denken und Fühlen in ihrer Persönlichkeit. Denn auch ihre soziale Situation ist gottgegeben – aber Allah hat es eben gut mit ihnen gemeint.
Gottgegeben ist alles in Ägypten, vom Erstgeborenen bis zur sozialen Position. Kaum ein Wort schallt so häufig durch die Straßen und Gassen dieses Landes wie „Inschallah!“ – „Wenn Gott so will!“ Das aber hebt die feine Ziselierung der Zeit auf, verbannt die Zukunft ganz heilsgeschichtlich ins Jenseits, dorthin, wo sie für den Menschen sein Leben lang unerreichbar ist. Und so kennen Millionen Ägypter heute nur zwei Zeitformen: das Diesseits und das Jenseits.
Die Vorstellung einer Autonomie des Menschen ist westlich. Auf ihr beruht das Konzept der freien Lebensgestaltung, die sich daran orientiert, was für das Individuum nach vernünftigen, wenngleich mit einem begrenzten Wissen vollzogenen Erwägungen „gut“ ist – der Mensch ist moralisches Subjekt. Der Islam in seiner heute dominant gelehrten Form kennt demgegenüber einen individuellen Freiheitsbegriff letztlich nicht. Zwar ist auch die ägyptische Gesellschaft, wie viele Nationen des biblischen Orients, gekennzeichnet von religiöser Pluralität. Immerhin stellen die christlichen Kopten etwa ein Zehntel der rund 65 Millionen Ägypter. Und wenngleich der Islam Staatsreligion und die koptische Bevölkerung in der politischen Realität nicht gleichgestellt ist, so wirkt doch das Toleranzgebot des Korans gegenüber den anderen Schriftreligionen in der ägyptischen Gesellschaft mäßigend.
Die Frage nach der freien Lebensgestaltung ist aber innerhalb der islamischen Gesellschaft ein Fremdkörper, der oft als „ungesunder Einfluss des Westens“ wahrgenommen wird. Zwar bestätige der Koran, wie der ägyptische Religionsminister Mahmoud Hamdi Zakzouk im Vorwort zu einer deutschen Ausgabe des Buches schreibt, „dass die Entscheidung des Menschen für den Glauben an Gott dem freien Willen unterliegt“. Doch zugleich warne der Koran, so Zakzouk unmittelbar weiter, „die Ungläubigen davor, auf dem Unglauben zu beharren, und erinnert sie daran, dass Gott der Herr über Himmel und Erde, der Allwissende, der absolut Weise und der unbegrenzt Umfassende ist“.
Das bedeutet nicht, dass dem Menschen in diesem Verständnis keine Verantwortung übertragen wird, denn er ist durchaus verantwortlich dafür, moralisch rechtschaffen zu leben und zu handeln – darauf verweisen immer wieder jene Muslime, die die Ablehnung von Gewalt nicht politisch, sondern religiös begründen. Die Vorstellung davon, was ein solches Handeln sei, erwächst dabei aber nicht aus der Vorstellung vom autonomen Subjekt, sondern aus der im Koran offenbarten religiösen Verpflichtung. Geschick und Gelingen des Einzelnen liegen in Gottes Händen.
Die ägyptische Gesellschaft hat theologische Einschnitte wie die Reformation und das mit dem Protestantismus einhergehende Konzept der menschlichen Eigenverantwortlichkeit nicht erlebt. Es erscheint geradezu als das geistige Gegenkonzept zu Mensch und Welt im zeitgenössischen Selbstverständnis vieler islamischer Gesellschaften. So versteht sich auch die überwältigende Mehrheit der Menschen in der ägyptischen Gesellschaft nicht als frei Handelnde. Zukunft ist etwas Geschehendes, ein Passivum und darum eine Zeitebene, die das Bedacht-Werden nicht sinnvoll erscheinen lässt. Daher gibt es auch Vor-Sicht im praktischen Leben wie in der Lebensgestaltung nur in begrenztem Maße. Der Mangel an kreativer Voraussicht legt einen Schleier statischen Denkens über öffentliche Diskursbereiche, auch auf so manche geisteswissenschaftliche Fakultät, in denen eine offene Dynamik der Gedanken immer wieder der Frage weichen muss, was der Koran hierzu oder dazu bereits sage und welches Denken er legitimiere.
Wie die Inhalte und Formen der öffentlichen Kommunikation, so ist auch der Sprachgebrauch der Menschen durchtränkt von dieser Zukunftslosigkeit. Wer „bukra“, „morgen“, sagt, meint selten morgen in einem streng chronologischen Sinne. Er meint: „In Zukunft, morgen oder übermorgen, oder aber in einer Woche, wenn Gott so will!“ In diesen Ausdrücken nur ähnlich sinnentleerte Floskeln wie beispielsweise im deutschen „Gott sei Dank!“ zu sehen, wäre irreführend.
Denn wenngleich der Gebrauch solcher Begriffe unreflektiert ist, so liegt dahinter doch die Vorstellung von der göttlichen Allmacht und der Schicksalhaftigkeit des Lebens. Zumeist heißt es ohnehin: „Bukra, inschallah!“, worauf der Gesprächspartner lakonisch antwortet: „Inschallah!“ Ägypten ist ein Land der sicheren Ungewissheit.
Soziales Symbol für die Abwesenheit der Zukunftswahrnehmung ist die Haltung der vielen tausenden von Menschen, die tagein, tagaus in der Hocke sitzend, ihre Galabeya angehoben, den Rücken leicht gebeugt, im Staub der Wüstenstadt verharren: Tagelöhner, die an Bushaltestellen und Straßenkreuzungen auf eine Verwendung warten; Boabs, Kairoer Concierges, die zwischen Straßenkötern und Müllbergen hausen, um Hochhauseingänge und Bauruinen zu bewachen, stumme Wächter des sozialen Lebens, deren Blicken nichts entgeht; aber auch der Obstverkäufer, der Angestellte dieser oder jener Behörde, der Fellache, der im Schatten einer Dattelpalme verharrt, bis der Tag vorbei ist, damit er seine Wasserbüffel wieder heim treiben kann. Sie alle warten. Aber sie warten nicht in jenem zeitlichen Sinne, der eine Möglichkeit, eine Wahrscheinlichkeit voraussetzt. Sie warten nicht auf etwas, sie warten einfach so, weil ihr Leben so ist, weil das Schicksal es so will. Ihr Warten ist ihr Seinszustand, ist Akzeptanz, ist bereits Ewigkeit in der Gegenwart.
Wenn sie ein Gefühl für die Zukunft hätten, wenn sie die Zeit wahrnähmen als jenen heraklitischen Fluss, der alles mit sich reißt, müssten sie resignieren oder aufbegehren. So viel Verzweiflung aber könnte ein Land nicht in Frieden ertragen.
MARKUS MESSLING
Fotohinweis: Der Autor, Jahrgang 1975, studierte Romanistik und Germanistik in Berlin und Lyon. Er bereiste mehrere Länder des Vorderen Orients, lebte zeitweilig in Ägypten, hält Vorträge und veröffentlicht Beiträge zur Geistesgeschichte der Region.
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