: Wenn die Tochter als Waffe stirbt...
aus Dahaische KARIM EL-GAWHARY
Ein kopierter schwarzweißer DIN-A4-Zettel, der zu hunderten an den Häuserwänden des palästinensischen Flüchtlingslagers Dahaische klebt, ist alles, was von ihrem kurzen Leben übriggeblieben ist. „Voller Dank und Bewunderung trauern die Freunde um die Märtyrerin Ajat Achras“, heißt es dort unter der Koransure, die besagt, dass jene, die auf dem Wege Gottes gestorben sind, nicht wirklich tot sind. Daneben blickt ein junges freundliches Mädchen selbstbewusst in die Augen des Betrachters. Der Rest ist eher säkulare pathetische Widerstandsphilosophie. „Wir schwören, uns nicht zu beugen, selbst wenn Fluten ihrer Armeen sich über uns ergießen, um uns auszulöschen.“
Einige der Zettel sind schon ein wenig verwittert. Es ist bereits mehr als einen Monat her, dass die 18-jährige Palästinenserin Ajat am Karfreitag vor einem Westjerusalemer Supermarkt ihren Sprengstoffgürtel gezündet hatte. Sie tötete sich selbst, den israelischen Wachmann Chaim Smadardie und Rachel Lewi, eine israelische Schülerin, die mit 17 Jahren fast im gleichen Alter war wie Ajat.
Es war ein brutales Attentat, das erneut in der israelischen Gesellschaft Existenzangst schürte und mit dazu führte, dass eine Woche darauf zwei Drittel aller Israelis in Meinungsumfragen die Invasion ihrer Armee in die palästinensischen Städte als gut und notwendig betrachteten. Seitdem ist die Serie der Selbstmordanschläge weitergangen, am Dienstagabend in Tel Aviv riss der Attentäter 16 Menschen mit in den Tod.
Das Flüchtlingslager Dahaische liegt nur eine halbe Autostunde vom Ort der blutigen Tat Ajats entfernt. Zwischen den Bewohnern des Lagers und der Außenwelt steht seit drei Wochen die israelische Armee, die je nach Belieben auch im Lager selbst Ausgangssperren verhängt und wieder aufhebt. Ajats einstiges Zuhause, das sind 120 Quadratmeter auf drei Stockwerke verteilt, in dem die 22-köpfige Familie lebt. Ein Haus wie hundert andere, die die 12.000 Flüchtlinge von Dahaische beherbergen.
Zwei Wellensittiche betrachten die Besucher interessiert am Eingang. Ein kümmerlicher Gummibaum wendet sich verzweifelt den wenigen Lichtstrahlen zu, die durch das kleine Fenster den Gang in einem trüben Licht erscheinen lassen. Mehrere Dutzend zerbrechlicher rosa-weißer Porzellanfigürchen zieren auf kleinen Regalen das Wohnzimmer. Wie passt das ins Bild einer kaltblütigen Selbstmordattentäterin, die einen Supermarkt in Schutt und Asche legte?
In Ajats Elternhaus wird einen Monat nach dem Anschlag nicht das Heldenepos der Tochter, Schwester und Cousine Ajat zelebriert. Eher herrscht eine Atmosphäre der Nüchternheit. Sicher sei man stolz auf die im Lager gefeierte Märtyrerin, lautet der erste Familienreflex gegenüber dem Journalisten. Den Vorwurf, dass Ajat zwei unschuldige israelische Zivilisten getötet hat, will ihr 26-jähriger Bruder Fathi nicht gelten lassen. „Die Israelis und ihre Besatzung haben uns zu solchen Taten getrieben“, erklärt er. „Die israelischen Armeereservisten, die im Flüchtlingslager Dschenin ein Massaker unter den Palästinensern angerichtet haben, sind am Tag zuvor schließlich auch nur Zivilisten gewesen.“ Ajats Vater Muhammad gibt sich etwas moderater: „Ich möchte nicht, dass auf irgendeiner Seite Blut fließt, aber die Welt tut immer so, als seien wir die Feinde des Friedens, obwohl wir eigentlich Opfer einer Besatzung sind.“
Als die Mutter einwirft, sie hätte ihre Tochter niemals aus dem Haus gelassen, hätte sie gewusst, was sie an jenem besagten Tag vorhatte, nicken alle im Raum einvernehmlich. Die „Märtyrerin“ Ajat nachahmen möchte eigentlich keiner. Der Vater sagt: „Unsere Familie hat mit unserer Tochter mehr als genug Blutzoll für Palästina bezahlt.“
Was die junge Ajat am Ende zu ihrer Tat bewegt hat, weiß eigentlich niemand genau. Sie habe nie über Politik gesprochen, erinnert sich ihr Verlobter Schadi, den sie im Sommer hätte heiraten sollen. Auch ihr Vater wundert sich bis heute. Eigentlich, sagt er, habe sich seine Tochter in ihren letzten Jahren fast ausschließlich auf die Schule konzentriert. Noch am Abend vor dem Attentat hätten sie zusammengesessen und Späße gemacht, erzählen Verlobter und Vater über die letzten gemeinsamen Stunden mit Ajat.
Alles war normal für die Achras. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie aus dem Fernsehen erfuhren, dass ihre Ajat hinter dem Anschlag in West-Jerusalem stand.
Im Rückblick, glaubt die Familie, habe Ajat möglicherweise ein paar Wochen vor ihrem Anschlag ein Schlüsselerlebnis gehabt, als der 24-jährige Nachbar Issa Faraj von einem israelischen Scharfschützen zu Hause vor seinen beiden Kindern erschossen worden sei, wie die Familie erzählt. Ajat habe das nicht mit eigenen Augen gesehen, dafür sei sie aber dabeigewesen, als der blutüberströmte Issa aus dem Haus geholt wurde. Die eigentlich ruhige Ajat habe nur noch hysterisch geschrien, erinnert sich ihr Bruder. Vielleicht waren es aber auch Ajats zwei Cousins im Gaza-Streifen, die während dieser letzten Intifada erschossen wurden, die das junge Mädchen zu ihrem Entschluss trieben. Allerdings hatte Ajat keinen von ihnen persönlich gekannt. Reisen vom palästinensischen Westjordanland durch Israel in den palästinensischen Gaza-Streifen sind praktisch für die meisten Palästinenser unmöglich.
Ajats Familie stammt ursprünglich aus dem heutigen israelischen Aschkelon, von dort war sie 1948 in den Gaza-Streifen nach Rafah geflüchtet. Als der jetzige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon in den 70er-Jahren als Chef des israelischen Südkommandos für den Gazastreifen zuständig war, lies er ein Dutzend Familien „aus Sicherheitsgründen“ von dort ins Westjordanland deportieren, darunter auch die Familie Achras, die sich in Dahaische zum dritten Mal eine neue Existenz aufbauen musste.
Was immer Ajats Motiv war, als sie ihren Entschluss gefasst hatte, alles Weitere ging wohl ziemlich schnell. Ajat muss Kontakt mit Verbindungsmännern der Al-Aksa-Brigaden aufgenommen haben, dem militärischen Flügel der Fatah-Organisation. Der übliche Deal ist relativ einfach: Wir geben dir Sprengstoff, du nimmst mit uns ein Bekennervideo auf, mit dem wir deine Tat in Anspruch nehmen können.
Ajats Zimmer, in dem sie mit ihrer Schwester zusammengelebt hat, ist nicht viel größer als eine Abstellkammer. Zwei Matratzen liegen auf dem Boden, die wenigen Dinge im Schrank gehören schon nicht mehr der Verstorbenen. Alle ihre Kleider, ihre vorbereitete Aussteuer und ihre Schulhefte, wurden an einen geheimen Ort gebracht, genauso wie der Fernseher der Familie. Schließlich wisse man nie, so heißt es, ob die israelische Armee, wie in vielen Fällen zuvor, nicht mit Bulldozern im Lager anrücken wird, um das Haus der Attentäterin dem Erdboden gleichzumachen. Als vor wenigen Tagen einige israelische Militärfahrzeuge länger in der Gasse anhielten, dachten viele, es wäre bereits so weit.
Richtig verärgert reagiert die Familie, wenn sie gefragt wird, ob sie denn nun auch von den Irakern und Saddam Hussein die 25.000 Dollar als Zahlung für das „Märtyreropfer“ erhalten habe. „Sieht es in unserem Haus so aus?“, fragt der Vater erbost. „Wir würden niemals Geld annehmen“, fügt er hinzu. Ein Onkel Ajats antwortet mit einer Gegenfrage: „Würdest du dein Kind für alles Geld der Welt in den Tod schicken?“
So richtig beschreiben kann niemand auf den Sofas im Wohnzimmer diese, wie es Ajats Verlobter nennt, „Mischung aus Stolz und Traurigkeit“. Ihm selbst, sagt er, fehlen die Worte dafür. Er habe niemals gelernt, sich geschliffen auszudrücken. Ajats Cousin Aiman wagt dennoch einen Erklärungsversuch: „Wir bringen unsere Kinder nicht zur Welt, um sie in den Tod zu schicken, aber wir bringen ihnen bei, ihre Würde zu verteidigen.“ Für die anderen im Raum scheint dieses Argument zufriedenstellend.
Ajat war nicht die erste palästinensische Selbstmordattentäterin und auch nicht die letzte. Aber sie war die erste, mit der sich sogar der im weit entfernten Washington regierende US-Präsident öffentlich beschäftigte. George W. Bush hat in einer Rede am 4. April gesagt: „Wenn ein 18-jähriges palästinensisches Mädchen dazu gebracht wird, sich selbst in die Luft zu jagen und dabei ein 17-jähriges israelisches Mädchen umbringt, dann stirbt die Zukunft selbst.“
Ajats Bruder Fathi schüttelt den Kopf. Er deutet zum Fenster, von dem aus das Flüchtlingslager zu sehen ist. „Schau hinaus“, sagt er, „unsere Zukunft stirbt nicht, sie ist schon längst tot“.
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