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Zur Sache, Schätzchen!

Der Erfolg der Reiseindustrie verdankt sich nicht zuletzt ihrer unterschwelligen erotischen Botschaft. Eine Spurensuche der Erotik beim Reisen. Ist der Sextourismus ein Schmuddelthema?

Tourismus & Sex sind längst eine gut funktionierende Liaison eingegangenDer deutsche Prostitutionstourist gilt als geizig und hat pervertierte WünscheWeibliche Lüste treibt es in Latino-Gefilde oder auf den dunklen KontinentDie Tourismus-industrie betreibt Raubbau an der Reiseerotik

von CHRISTEL BURGHOFFund EDITH KRESTA

Der Tourismus nimmt sich unserer Wünsche an. Er entführt uns in ferne Paradiese, er stillt die Bedürfnisse nach Ruhe, Natur und legt uns die Kultur fremder Länder zu Füßen. Er errichtet Luxustempel an den schönsten Flecken der Erde und lockt mit aufreizenden Körpern an die Strände dieser Welt. Was er uns mit seiner erotisierten Werbung jedoch verspricht, organisiert er letztendlich (noch) nicht oder nur halbherzig: Sex.

Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq klagte in seinem Buch „Plattform“ genau das ein. Sein Protagonist Michel lobt den Sextourismus als idealen Tausch: „Auf der einen Seite hast du mehrere hundert Millionen Menschen in der westlichen Welt, die alles haben, was sie sich nur wünschen, außer dass sie keine sexuelle Befriedigung mehr finden. […] Und auf der anderen Seite gibt es mehrere Milliarden Menschen, die […] nichts anderes mehr zu verkaufen haben als ihre Körper und ihre intakte Sexualität.“ Michel entwickelt ein Konzept für Ferienclubs, „in denen die Leute vögeln können“.

Die Sexprovokation brachte dem Bestsellerautor Houellebecq vor allem in Frankreich Medienrummel auch für sein neues Buch. Sein Bekenntnis zum sexuellen Defizit und die Forderung nach organisiertem Sextourismus zielt ins Herz eines sensiblen Geflechts aus sexueller Praxis der Urlauber, verschwiegener Zurückhaltung der Reiseveranstalter und der allgemeinen moralischen Entrüstung darüber. Doch Tourismus & Sex sind längst eine gut funktionierende Liaison eingegangen.

Die Dominikanische Republik, Thailand, Brasilien, Vietnam, Kambodscha – mehr und mehr Länder erscheinen auf der touristischen Landkarte als Sexdestinationen. Genaue Zahlen sind allerdings schwer zu bekommen, denn die Grenzen sind fließend. Eine Studie des Bundesgesundheitsministeriums von 1995 definiert Sextouristen als Reisende, „die in den Zielländern materiell belohnte sexuelle Kontakte mit einheimischen Partnern haben.“

Sextouristen bilden keine homogene Gruppe: Es können Frauen oder Männer sein, Schwarze, Gelbe, Weiße, homosexuell oder heterosexuell, sie kommen aus allen Schichten. Zahlenmäßig bilden die westlichen heterosexuellen Männer die größte Gruppe.

Allein aus Deutschland sollen jährlich zirka 800.000 Sextouristen ins Ausland reisen. Ein Viertel von ihnen sucht sexuelle Kontakte mit Einheimischen in außereuropäischen Ländern. Befragungen unter Sextouristen vor Ort zeigen, dass im Schnitt 70 Prozent von ihnen von vornherein Sex mit Einheimischen planen. Männer verhalten sich überwiegend promisk: Sie haben durchschnittlich vier Partnerinnen in zwei Wochen. Noch aktiver sind homosexuelle Männer, die es durchschnittlich auf sechs Partner bringen. Mit ihren weltweiten Travel-Guides im Gepäck suchen sie die einschlägigen Treffs auf.

Der Sexmarkt wächst und ist schwer durchschaubar. Seine Regeln jedoch sind durchsichtig und folgen einem schlichten Muster: „Der Motor für die Entwicklung des Sextourismus ist vor allem das Wohlstandsgefälle zwischen den Angehörigen der Ersten und der Dritten Welt. In dem Moment, in dem es beseitigt ist, würden sich die Verhältnisse rasch normalisieren und würden vermutlich ähnliche – wenn auch landesspezifische, kultur- und politikabhängig variierende – Formen des Sexgewerbes entstehen, wie wir sie auch hierzulande kennen.“ So urteilt das Bundesgesundheitsministerium in seiner Studie. Es schließt die Beobachtung an: „Wo immer Menschen aus vergleichsweise reichen Ländern in Regionen mit starkem Gefälle kommen, scheint so etwas wie eine Sonderangebotsmentalität bei den Reisenden zu entstehen. […] Sexuelle Dienstleistungen sind eine Sonderform solcher Angebote.“

Der Körper als käufliche Ressource der Dritten Welt. Gemeinhin spricht man hier von Ausbeutung, von Machtverhältnissen oder auch Dominanzbedürfnissen innerhalb patriarchaler, frauenfeindlicher Strukturen. Der Autor Houellebecq hingegen sieht die Prostitution als Business as usual in einem globalen Markt mit seinen strukturellen Ungleichheiten. Die schnelle Triebbefriedigung im Sextourismus gibt vor allem Hilfsorganisationen Anlass zur Sorge, denn es geht dabei nicht nur um Sex unter Erwachsenen: Tendenziell wird der Hunger auf den kindlichen Körper größer. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef hat recherchiert, dass „Millionen von Kindern weltweit wie Vieh gehandelt und als Sexsklaven benutzt werden.“ Allein in Indien gebe es 400.000 minderjährige und weibliche Sexsklaven. Etwa 300.000 in den USA, 175.000 in Ost- und Zentraleuropa. Ecpat Deutschland (End Child Prostitution, Pornography and Trafficking), ein internationales Netzwerk, das Kinderrechte vertritt, betont: „Der Anstieg der Kinderprostitution verlief parallel zur Zunahme des weltweiten Tourismus. Auch wenn nur eine Minderheit der Reisenden Kinder sexuell missbraucht und auch Einheimische zu den Kunden gehören: Tourismus und die Devisen aus den Ländern des Nordens haben dem „Sexmarkt“ in den Entwicklungsländern entscheidende Impulse gegeben.“ Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen schätzt, dass kriminelle Banden mit Kinderprostitution und Kinderpornografie weltweit jährlich fünf Milliarden Dollar umsetzen.

Bezahlter Sex mit Einheimischen ist ein Schmuddelthema. Wenn es bislang öffentlich diskutiert wurde, dann als Sache von Ausbeutern und Opfern. Prostitution gilt als Endstation verpfuschter Frauenbiografien. Auch die beteiligten Männer haben kein gutes Image: Sie gelten als schwächliche Typen, die sich in der Ferne aufspielen, weil sie gleichberechtigte Partnerinnen meiden.

Der Ulmer Kriminalhauptkommissar Manfred Paulus, der seit Jahren als Fahnder kriminellen Sextouristen auf der Spur ist, sagt: „Der deutsche Prostitutionstourist gilt als geizig, stellt aber hohe Anforderungen und hat pervertierte Wünsche. Er fühlt sich als Krösus und steht auf der Liste der Prostituierten ganz unten.“ Mehr als die Hälfte von befragten deutschen Sextouristen in Thailand beschrieben ihre Sexualpartnerinnen als „mädchenhaft“. Unter den männlichen Sextouristen finden sich mehr unsichere Persönlichkeiten als im Bevölkerungsdurchschnitt, aber auch doppelt so viele Extrovertierte. Sie kommen aus allen Schichten der Bevölkerung. Neunzig Prozent sind alleinstehend. Ihr Durchschnittsalter liegt bei knapp 35 Jahren. Das sind die Ergebnisse von Untersuchungen zu Täterprofilen.

Ob Thailand oder Brasilien, weibliche Körper locken. Die Werbung im organisierten Tourismus spricht in der Regel den lüsternen Herrenblick an. Ein Blick mit Tradition. Dieser hat kulturgeschichtlich unsere Vorstellung von der Erotik der Fremde geprägt. Der Arzt und Hobbyethnologe Gregor Kraus etwa zeigt in seinem Bildband „Bali“ die Einwohner dieser Südseeinsel als Menschen eines fernen, unberührten Paradieses. Krauses Fotografien, entstanden 1912 und 1913, waren eine ethnologische Sensation, die allerdings auch als Pin-ups ihre Funktion erfüllten. Die „wilde Frau“ – ein einziges sexuelles Versprechen, ihre Leib „eine unglaubliche Fantasie des Ausdrucks, voll pflanzlicher Anmut, tierhafter Bewegtheit und erotischer Gespanntheit“. Am Bild der Südsee, ihrer prallen, unverhüllten, anarchistischen Erotik haben viele Herren gestrickt. Von Tahitis Entdecker James Cook über den Forschungsreisenden Louis Antoine de Bougainville bis zum Maler Paul Gauguin – sie alle wirkten mit am Bild einer vibrierenden, wollüstigen, exotischen Atmosphäre. Diese verdichtete sich letztlich zur Gestalt „eines einzelnen weiblichen Körpers, der sich uns entgegenschwang“ (Hickman Powell). Paul Gauguin, der prominenteste Propagandist der Südseeidylle, erschuf wunderschöne Bilder von Frauen im Naturzustand. Vor allem aber liebte er sie: „Jede Nacht kamen die teuflischen Straßenmädchen in mein Bett. Gestern hatte ich deren drei, um weiterarbeiten zu können. Ich muss dieses wilde Leben beenden und mir ein ernsthaftes Mädchen suchen, um ohne Pause weiterzuarbeiten, zumal ich mich in Topform fühle, und ich glaube, dass ich bessere Arbeit als je zuvor leiste“, schrieb er 1895 in einem Brief an seinen Freund und Agenten. Seine neue feste Freundin wurde ein Mädchen von dreizehneinhalb Jahren.

„Die schwarze Sklavin, die Frauen mit den Mandelaugen, die Indianerin und über allen das Südseemädchen. Sie alle zusammen beginnen den Körper zu bilden, der sich den Wünschen zum Aufbruch gerüsteter Männer als geheimnisvolles Ziel anbietet; dieser Körper enthält mehr Lockungen als der Rest der Welt zusammen.“ Schreibt Klaus Theweleit in seinen „Männerphantasien“. Aber auch Nordafrika war und ist so ein Ort der Verheißung. Und da die Frauen dort tabu sind, wurde es zum Mekka homo-, bisexueller wie auch päderastischer Männer. Autoren der Beat-Generation wie Allen Ginsberg und William S. Bourroughs, Paul Bowles, Sir Alfred Douglas, Robin Maugham, Jean Genet oder Oscar Wilde: die Liste der Autoren, die Nordafrikas Versprechen auf schöne Männerkörper zwischen Tanger und Algier anzog, ist nahezu endlos.

Bis heute sind unsere Stereotype der Südsee, des Harems, der Exotik schlechthin durch den männlichen Blick geprägt. Männerfantasien. „Ich wünsche mir, dass die Welt sehen möge, wie die Damen weit besseren Nutzen aus Reisen zu ziehen wissen als die Herren. Die Welt ist von Männerreisen bis zum Ekel überladen, alle mit denselben Kleinigkeiten angefüllt. Eine Dame hat die Fähigkeit, einen abgenutzten Stoff mit neuen Bemerkungen zu verschönern“, notierte pikiert Marie Esther, eine enge Vertraute von Mary Wortley Montagu. Diese englische Lady, die zwischen 1716 und 1718 als Gattin des britischen Gesandten Harems in Konstantinopel besuchte, hatte die Chance, das Dolcefarniente und die Körperlichkeit in türkischen Bädern zu beobachten. Ihre Brief an Freunde wurden postum veröffentlicht. Sie waren mit die ersten Zeugnisse weiblicher Reiseschriftstellerei.

Erotische Obsessionen von Frauen sind literaturhistorisch kaum dokumentiert. Es blieb den Frauen von heute vorbehalten, sie nicht nur zu leben, sondern auch darüber zu schreiben. Die amerikanische Dozentin Maryse Holder schilderte in den 70er-Jahren ihre Reiseerlebnisse in Briefen an eine Freundin. Diese Briefe wurden veröffentlicht, nachdem die Autorin auf ihren erotischen Streifzügen in Mexiko ermordet worden war. Holder machte vorsätzlich Jagd auf mekikanische Machos, um sich ihnen an den Hals zu werfen. Sie rauchte und trank, sie dröhnte sich mit Marihuana zu und liebte hemmungslos, auch die, die sie zurückwiesen. Im Vorwort der Buchausgabe „Give sorrow words – Maryse Holder’s letters from Mexico“ würdigt die amerikanische Feministin Kate Millet die Sprengkraft dieser Thematik: hemmungsloser Sextourismus, praktiziert von einer Frau. Sie sah in Maryse Holder „eine Schwester, Abenteurerin, eine Verrückte, so kühn wie früher Henry Miller, so selbstzerstörerisch wie Janis Joplin, die Stimme Genets in einer Frau […].“ Maryse Holder machte nach eigenen Angaben Urlaub von der Political Correctness des Feminismus der frühen Siebzigerjahre. Ihr Credo: entdecken, welche Art von Lust sie als Frau eigentlich wollte.

Vor allem in den Siebzigerjahren trieb diese Programmatik viele Frauen in die Welt. Sie machten sich auf nach Jamaika, zu Reggae und Rastas, um sich ohne Gewissensbisse an der Schönheit männlicher Körper zu erfreuen: „Welche Frau hier könnte es sich leisten, ihre männliche Muse stundenlang versonnen zu betrachten, wie es die Frauen auf Jamaika von sich berichten?“, fragten sich Autorinnen der Frankfurter Szenemagazins Pflasterstrand. Frauen experimentierten mit Fischern in Griechenland und auf Tobago, mit arabischen Wüstenprinzen und brasilianischen Strandurlaubern. Sie suchten den besonderen, vielleicht den archaischen, auf jeden Fall den erotischen Mann. Ihren zurückgelassenen Männern in heimatlichen Gefilden gab dies zu denken: Denn vor allem Frauen aus dem Umfeld der Frauenbewegung hatten sich zur dunkel-lockenden Fremdheit des südländischen Mannes aufgemacht. Gerade jene Frauen, die am herrschenden Männerbild herumgemeißelt hatten, bis es kippte. In seinem Buch „Liebesfluchten“ analysierte Uwe Wandrey verständnisvoll: „Viele Frauen erleben sich im nördlichen Beziehungsklima als weniger begehrenswert und besitzen dort ein geringeres Selbstwertgefühl als im südlichen Reizklima.“ Nicht wenige jedoch, weiß Wandrey aus seinen Gesprächen mit ungefähr dreißig südlastigen Frauen, finden dort mehr als nur eine kurze Affäre. Sie finden „eine ekstatische Erschütterung“.

Reflektiert über den Aufbruch in den 70ern wurde vor allem von den Frauen selbst. „Manche Frauen träumen von einer Fremdheit, die sich bis zum Schmerz steigert und erst dann in einer wilden Orgie des Über-sich-Herfallens zusammenbricht. Sie träumen von Verführungsspielen, von Männern, die ihnen ihre Wünsche von den Augen und Lippen ablesen. […] Erotik wuchert unerwartet häufig dort, wo sich Nähe und Verständnis nur selten herstellen. Erotik ist die Suche nach dem Fremden, Anderen“, schrieben die frauenbewegten Pflasterstrand-Frauen. Ihr Statement in der Blütezeit der Beziehungsdiskussionen: „Erotik ist Geschlechterkampf, kein Pazifismus.“

Unentschieden bis heute bleibt die Frage, ob der weibliche Ausbruch unter die Kategorie konventioneller Sextourismus fällt oder nicht. Denn zumindest in einem unterscheiden sich männliche und weibliche SextouristInnen: Frauen lassen sexuelle Begierde meist nur dann zu, wenn sie als romantischen Liebe daherkommen. Sei es aus Angst davor, als Hure denunziert zu werden, sei es aus anerzogener Scham, aus emotionaler Konditionierung. Der Feminismus der Siebziger versuchte diese Konditionierung aufzubrechen und das ziellose erotische Begehren, bislang eine männliche Domäne, auszutesten. Und vielleicht war es auch ein Versuch, das herrschende Machtgefälle zwischen den Geschlechtern zu untergraben: Kraft ihrer ökonomischen Potenz konnten die in die Welt hinausziehenden Frauen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu ihren Gunsten korrigieren.

Auf der Landkarte des sexuellen Begehrens zog es die Männer traditionell in die östliche Hemisphäre und Frauen eher gen Westen. Die männlichen Sehnsüchte richteten sich auf die dienende, demütige, geschmeidige asiatische Kindfrau, die naturumflorte Nackte und die verschleierte Orientalin, die aus ihren Hüllen heraus dem Mann verheißungsvolle Blicke zuwirft. Weibliche Lüste treibt es zu gestandenen, urwüchsigen Männern in Latino-Gefilden oder auf den dunklen Kontinent. Beide Geschlechter suchen Orte auf, an denen sich historische Bilderwelten und Projektionen mit gelebtem Sex verbinden lassen.

Die alten Klischees der Männerwelt über die Frauen bestehen weiter, aber die Frauen haben aufgeholt. Leni Riefenstahl feierte die Körper der Nuba und die Schweizerin Corinne Hofmann erlag der Erotik eines Massai und bastelte daraus einen Bestseller, den die Frauen hierzulande verschlangen. Die Tirolurlauberin schwärmt bedingungslos für knackige Mannsbilder, der Skilehrer und Bergführer ist das Synonym für den attraktiven Hirsch schlechthin.

Tourismus sucht das Fremde, das Andere. Aber er sucht es inzwischen überall. Der globale Tourismus kennt keine Grenzen des Zugriffs mehr. Er bedient sich der fremden Körperlichkeit, wo und wie er will. Sex sells. Der Erfolg der Reiseindustrie verdankt sich nicht zuletzt ihrer unterschwelligen erotischen Botschaft. Der internationale Tourismus schafft heute die Orte der sexuellen Begegnung selbst, etwa in der Dominikanische Republik. Dort funktioniert das Kennenlernen unproblematisch. Touristen finden problemlos halbprofessionelle BegleiterInnen für die Urlaubszeit und ein großes Angebot attraktiver Sexarbeiterinnen in einschlägigen Clubs und Diskos. Es würde nicht verwundern, wenn Sexarbeiterinnen in naher Zukunft zum All-inclusive-Konzept dazugehörten wie der Sundowner an der Bar. Dr. Carlos Ganter, Chefredakteur der deutschsprachigen Monatszeitschrift Hallo der Dominikanischen Republik, vermutete in einer Fernsehreportage: „Ich wage die Prognose, dass zwei Drittel aller Touristen mit der Absicht hierher kommen, die sie auch haben, wenn sie nach Bangkok reisen, nämlich dass sie Sextouristen sind.“ Die meisten Urlauber bleiben dabei unter sich: in touristischen Hochburgen und Single-Treffs am Strand unter Palmen, wo Baccardi lockt und lockert und geschulte Animateure rund um die Uhr fröhliche Stimmung verbreiten. Elementare Reize wie warmes Wasser, Sonne und Salz auf nackter Haut lockern den Körperpanzer und die Gefühle. Für verknitterte Nordländer sind das Sensationen sinnlichen Erlebens.

Es ist das ideale Ambiente für erotische Spielchen. Dieses Ambiente ist weit entfernt vom Geschlechterkampfszenario der Pflasterstrand-Frauen: Es ist frei von Irritation, Reibung, Eigenbewegung. Die erotischen Spielchen im Club verwirklichen sich in einer gezähmten Fremde.

Manche Fachleute sehen in diesem durchkalkulierten touristischen Betrieb die Erotik auf dem Rückzug. Bruno August Krümpelmann (Düsseldorfer Touristik-Institut) bescheinigt der Reiseindustrie eine wachsende Produktion erotischen Frusts und behauptet forsch: „Die von der Reiseindustrie produzierten erotischen Wunschimages und die damit verbundenen Verheißungen werden von den Reiseprodukten immer weniger eingelöst. Die Tourismusindustrie betreibt Raubbau an der Reiseerotik.“ Sie verspiele sie mit der Verplanung von Zeit, der Anreise ohne Eigenbewegung, der Vermeidung selbstbestimmter Rhythmen, der Normierung fremder Erfahrungsräume zu touristischen Spielburgen, der Aufhebung jeglichen Leerlaufs, wo doch gerade Leerlauf die Vorbedingung für Muße sei.

Wenn man – wie Krümpelmann – davon ausgeht, dass mit Erotik mehr gemeint ist als ein bisschen nackte Haut und Triebabbau, sondern die Lust der schöpferischen Kraft“, dann liegt es auf der Hand, dass der organisierte Tourismus kein Garant für erotisches Erleben ist. Das pauschale Arrangement konditioniert uns, es verplant unsere Zeit, es verschafft uns eine normierte Befriedigung. Wo uns Tourismus Glück verspricht, nimmt er uns am Gängelband. In der schön verpackten Fremde spiegeln sich die eigenen Verhältnisse wider. Wir dürfen uns ganz wie zu Haus fühlen. Irritationen und Herausforderungen müssen draußen bleiben, denn im Urlaub darf nichts schief gehen, er ist teuer bezahlt, wertvoll und terminiert. Die Konsumlogik des Tourismus mag den Eros locken und befriedigen, aber dieser verliert an Vitalität. „Wo bleiben jene Wünsche, die im Konsum nivelliert werden? Wo verschwindet das, was sich hinter den Lifestyle-Masken an Begierden verbirgt?“, fragt Krümpelmann. Er beklagt ein Defizit.

Mit seinem Vorschlag, die Erotik zu locken, befindet er sich in Gesellschaft aller, die für ein anderes, nachhaltiges Reisen plädieren: für Langsamkeit und Entschleunigung, für längere Aufenthalte und Eigenbewegung. Eros brauche die Herausforderung und Zeit, um sich zu entfalten, meint Krümpelmann. „Eine gedehnte Zeit ist die Conditio sine qua non der Erotik.“

Auf Reisen flirrt und knistert es. Ein bisschen zumindest. Reisen bedeutet Aufbruchsstimmung, Verheißung, Ungewissheit, Unberechenbarkeit, Erwartung. Reisen bringt Spannung. Das Schauen, das Betrachten, die lustvolle Distanz, die Verzögerung, der Wechsel zwischen nah und fern – da lädt sich etwas auf, beflügelt die Fantasie. Reisen schafft Raum für Projektionen und Erfahrungen. Vor allem dafür, sich selbst neu zu erfahren.

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