: Alles bleibt anders
Frankreich hat rechts gewählt. Doch ändern wird sich nicht allzu viel: Dafür sorgt Chirac, der Mann ohne Ideen. Über den Kern des Problems, die Verfassung, redet niemand
„Frankreich ist seit heute Chirac-Land.“ Sieben Jahre ist es her, am 8. Mai, da protokollierte dies der Chronist im Sender Freies Berlin. Zwischendurch ist einiges passiert. Nun ist es wieder so weit. Und fast bis aufs Wort kann man wiederholen, was damals weiter im Text stand: Chirac „hat die große Mehrheit der Amtselite hinter sich. Vier Fünftel der Abgeordneten im Palais Bourbon, dem Parlament. Drei Viertel der Sitze im Senat, dem Oberhaus. Die Mehrheit in 20 der 22 Regionalparlamente und damit ihre Präsidenten.“ Heute ist es fast ebenso. Hinzu kommt die konservative Mehrheit im Verfassungsrat, kommen die Bürgermeisterämter der meisten Großstädte. Nur Paris und Lyon sind seitdem in linke Hände geraten.
Jean-Marie Le Pen, der damals wie jetzt abgeschlagene Führer der Rechtsnationalisten, meinte am 7. Mai 1995 ganz richtig, Chirac habe nun alle Mittel in der Hand, um sein Programm zu verwirklichen, er müsse Großes beweisen. Doch viel hat der neogaullistische Führer nicht beweisen können. Die allgemeine Wehrpflicht wurde abgeschafft, die Atomversuche auf dem Mururoa-Atoll wiederaufgenommen. Beides hatte nicht im Wahlprogramm gestanden.
Und 1997 stolperte Chirac, der allzu schlaue Rechtspopulist, über seine eigene Taktik. Um sich eine noch bessere Machtbasis für seine Wiederwahl 2002 zu schaffen, löste er überraschend das Parlament mit seiner bequemen rechten Mehrheit auf. Dafür bekam er in den folgenden Neuwahlen eine schallende Ohrfeige. Die Wähler setzten ihm eine rot-rosa-grüne Regierung mit einer kräftigen Parlamentsmehrheit vor die Nase.
In der fünfjährigen Kohabitation, der Zwangsehe zwischen dem rechten Präsidenten und der linken Regierung Jospin, machte Chirac zumeist die schlechtere Figur. Die zum Marktliberalismus erwachte neue Sozialdemokratie bekam sogar in der großen internationalen Wirtschaftspresse immer wieder gute Noten. Sie privatisierte und liberalisierte und leistete darin Besseres als die vor ihr regierenden Konservativen. Freilich verlor sie dabei ihre sozialistische Seele. Davon profitierten dann die Kleinparteien der äußersten Linken – und brachten Lionel Jospin, den arbeitsamen Mann ohne jedes Charisma, und seine Partei um alle Chancen.
Für die nächsten fünf Jahre erwarten die Franzosen von ihrem Regenten herzlich wenig. Sie haben ihn gewählt, weil sie die mühsame Kohabitation leid waren und weil sie politisch in Ruhe gelassen werden wollen. Die letzten fünf Jahre boten für die amüsiersüchtigen Franzosen wenig Unterhaltsames. Zu Zeiten des großen Cäsaren Mitterrand war es aufregender zugegangen. Dass Chirac auf seiner Weste unschöne Flecken hat, dass er in Sachen Parteifinanzierung bestechlich ist, weiß jedermann. Und jedermann weiß auch, dass er um jeden Preis wiedergewählt werden musste, um seine Immunität zu behalten. Das macht noch keinen hinreichenden Kitzel.
Alle aber können beruhigt sein, dass nun nicht viel passieren wird. Chiracs allzu breite Mitte wird sich wie eine große Koalition immer wieder selbst blockieren. Denn sie muss alle Interessenwidersprüche in sich selber austragen. Das ist den veränderungsscheuen Franzosen gerade recht.
Mit der Parlamentswahl haben die Franzosen wieder einmal vermieden, den Schadensherd ihres politischen Systems stillzulegen, das in ständigem Wechsel Blockaden und Krisen produziert. Dieser Schadensherd ist die Verfassung der Fünften Republik selbst, die der Präsidenten-General de Gaulle 1958 installiert hatte. Sie hat dazu geführt, dass die Franzosen seit 1986 unter drei Kohabitationsregierungen insgesamt neun Jahre regiert werden mussten. Den wetterwendischen Franzosen hat das mal gefallen, mal wieder nicht.
Noch vor einem halben Jahr meinten die meisten Demoskopen und Politdiagnostiker, diesem Volk sei die Kohabitation gerade recht, weil sie die Machtgewichte in der Schwebe halte. Allzu gutes Regieren verabscheuen die Franzosen ebenso wie die Amerikaner. Aber nun glauben dieselben Beobachter, der ordentlich regierende Jospin sei abgewählt worden, weil alle die Kohabitation satt hätten.
Gewiss ist, dass Frankreich – wenn es zum vierten Mal eine Kohabitation gewählt hätte – einer Verfassungskrise der Fünften Republik hätte ins Auge sehen müssen. Vor dem 21. April, also ehe Jospin im ersten Wahlgang um die Präsidentschaft scheiterte, war das durchaus denkbar. Was die volonté générale des Volkes eigentlich gewollt hatte, wird man nie erfahren. So haben es die wirren Konsequenzen ihrer halbbonapartistischen Verfassung den wahlmüden Franzosen wieder mal erspart, sich um eine bessere, Sechste Verfassung zusammenraufen zu müssen. Dafür fehlen ihnen die Kräfte. Auch wenn die Franzosen laut die politische Logik der Republik beschwören – im Durchwursteln sind sie nach Italien die europäischen Vizemeister.
Entscheidend ist nun die Frage, wie sich mit dieser Verfassung und mit dieser politischen Klasse der Übergang zum postmodernen Marktstaat und zum postmodernen Regieren vollziehen kann. Auf den ersten Blick scheint postmodernes Regieren, das den Bürger als Citoyen und seine Repräsentanten in der Republik klein schreibt, unvereinbar mit der Verfassungsidee der Franzosen. Im postmodernen Staat bedeutet Regieren nicht mehr eine politische Entscheidungsfindung, die nach einem offenen Meinungskampf zum Recht durch Gesetz führt. Der Staat vertritt nicht den organisierten Volkswillen, er herrscht nicht mehr kraft der höchsten Gewalt, zu der er durch den Bürgerentscheid bestätigt, legitimiert wird.
Governance ist das Stichwort für postmodernes Regieren. Es geschieht durch das Moderieren von Interessen durch Manager, die zwar noch durch Regeln, Gesetze, Medienkontrolle etc. angeleitet werden, die aber nicht mehr repräsentativ die Macht ausüben. Dabei kann auf vieles verzichtet werden, was bisher die Demokratie im republikanischen Staat ausmachte. Zum Beispiel auf die politische Meinungsbildung und die Gesetzesvorbereitung durch die Parteien.
Regieren als Governance wird den europäischen Nationalstaaten nicht zuletzt durch den kapitalistischen Opportunismus aufgezwungen, wie ihn die europäische Marktordnung ohne Verfassung verlangt. Frankreich, das sich gerne als die Mutter der republikanischen Verfassungsstaaten sieht, muss postmodernes Regieren heute ebenso betreiben wie alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union – und wie auch die USA. Dabei schwindet die Identität der Staatsnation ebenso wie die Identität der Parteien. Den nationalpatriotischen Konservativen Frankreichs, die seit Jahrzehnten als Sammlungsbewegungen um große Chefs geführt werden, fällt das in der Praxis viel leichter als den Sozialisten. Die Sozialisten sind die Letzte der Parteien. Wenn sie wieder auf die Beine kommen, dann nicht mehr durch eine Modernisierung als Partei, sondern als postmoderne Veranstaltung von ehemals linken Managern.
CLAUS KOCH
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