Wo sind die Waschlappen?

Hupkonzerte, Nationalflaggen, Gejohle ohne Ende. Warum jubeln die Türken in Kreuzberg, in Neukölln und im Wedding so, wie sie jubeln? Muss das sein, fragten wir unseren türkischen Autor

von CEM SEY

„Es wirkte auf mich wie eine Mischung aus einer faschistoiden Veranstaltung und der Love Parade“, kommentierte eine deutsche Journalistin das, was sie da sah. Am vergangenen Dienstag schlugen die Türken bei der fernöstlichen Fußball-WM erst Japan 1:0 und dann über die Stränge. Die Türkei avancierte ins Viertelfinale. Eine Sensation! In allen türkischen Städten feierten vor allem Jugendliche auf den Straßen, bis sie nicht mehr konnten. Natürlich bildeten sich auch in Berlin Autokorsos. Viele Jugendliche türkischer Herkunft strömten ins Stadtzentrum, wo sie auf weitere tausend Landsleute trafen, die sich das Spiel auf der Sony-Riesenleinwand am Potsdamer Platz angeschaut hatten. „Türkiye, Türkiye“ skandierend tanzten und hupten sie. Ein Riesenkrach. Und die Deutschen fragten sich: „Muss das sein?“ Die Freudenausbrüche der türkischen Berliner sprechen für sich: „Ja, es muss sein!“

Warum? Die Türken sind seit Jahrzehnten ein leidenschaftliches Fußballvolk. Doch lange wurde diese Leidenschaft nicht belohnt. Sowohl die Nationalelf als auch die im Land bekannten Fußballclubs gehörten zu den Mannschaften, die bei Europa- oder Weltmeisterschaften gleich als erste rausflogen. Türkische Fußballfans und mit ihnen die Medien waren stets dankbar, wenn die Nationalelf in der ersten Runde gegen Hinterbänkler wie Luxemburg oder Malta spielen musste. Denn, darüber waren sich alle im Klaren, das waren die einzigen Teams, mit denen man sich messen konnte.

Das 0:0 in Rom gegen Italien in den 70er-Jahren galt bis dahin als „das legendäre Spiel“ im Land. Das Resultat war übrigens nur zustande gekommen, weil die türkischen Spieler, alle elf, sich 90 Minuten im eigenen Strafraum erfolgreich zur Wehr gesetzt hatten. Doch der türkische Fußball erblühte. Durch ausländische Trainer, die vor allem aus Deutschland kamen. Mit ihnen entwickelten sich in den 90ern türkische Clubs rasch zu mittelmäßigen bis erfolgreichen Mannschaften in Europa.

Nun schließlich zog diese Woche die Nationalmannschaft nach, und die Türken feiern das angestaute Erfolgsgefühl einfach heraus. Als Galatasaray in Mai 2000 in Kopenhagen die Kicker von Arsenal London 1:0 schlug und den Uefa-Cup gewann, waren die Szenen in Berlin ähnlich wie in den vergangenen Tagen. Auch damals waren alle auf der Straße. Nicht nur die Fans von Galatasaray, sondern auch die der verfeindeten Clubs Fenerbahce und Besiktas feierten gemeinsam und friedfertig auf dem Ku’damm bis in die frühen Morgenstunden. Damals steigerten sich die Spontanpartys von Runde zu Runde, die Galatasaray überwand. Die Berliner Türken freuten sich immer mehr, nicht ohne sich zu fragen, was denn auf einmal in die einstigen Waschlappen gefahren war. Als Galatasaray in der folgenden Saison ähnliche Erfolge hatte und schon ein Stück Normalität erreicht war, feierten Galatasaray-Fans so frenetisch wie üblich. Die anderen hielten sich zurück.

Offenbar benötigen die türkischen Fußballophilen nun noch einen Weltmeisterschaftserfolg, um sich endgültig von der Last der Vergangenheit befreien zu können. Feiern als Akt der Bewältigung des Gestern. Doch eines wird als mediterrane Konstante bleiben: Egal wie gut die anatolischen Kicker werden, ein bisschen Feiern bei jedem Erfolg wird auch in Zukunft sein. Nicht nur in Istanbul, Ankara oder Izmir. Sondern eben auch in der „größten türkischen Stadt außerhalb der Türkei“, in Berlin.

Mete Sener, Geschäftsführer des bisher erfolgreichsten türkischen Fußballclubs in Berlin, verweist auf die kulturellen Unterschiede: „Schauen Sie mal, wie unterschiedlich die Zuschauer in den Stadien auf Tore reagieren. Wenn die Engländer oder die Deutschen ein Tor schießen, kommt ein lautes ‚Yeaaah!‘ aus den Tribünen. Mehr nicht. Schießen aber Brasilien, Senegal oder die Türkei ein Tor, dann tanzen und singen die Fans. So sind die Jugendlichen auch in Berlin.“ Sener glaubt, dass die Türken in Deutschland auf die Erfolge ihresgleichen in der türkischen Nationalelf stolz sind. Denn nicht nur Yildiray Bastürk von Bayer Leverkusen, sondern auch Ümit Davala und Ilhan Mansiz spielten mal als „Almanci“. Also als „Deutschländer“, wie die Deutschtürken im eigenen Land verspottet werden. Die Türken in Deutschland glauben schon seit langem, dass ihren Kindern eine Fußballerkarriere durch Deutsche bewusst verbaut wird. Eindeutige Beweise fehlen. Doch die Erfolge der Almanci-Stars in der Türkei, sollten die Deutschen zum Nachdenken bewegen. Dass Nationalismus oder ein „Wir-sind-wer“-Gefühl bei den feiernden türkischen Jugendlichen in Berlin auszumachen ist, bestreitet Sener heftigst: „Unsinn! Überall auf der Welt freut man sich doch auf diese Weise über Erfolge.“