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Berliner Sommerbad-Blues

Volkszorn könnte das Sommerloch füllen, heute ist Aktionstag rund ums Bad

aus Berlin WALTRAUD SCHWAB

Auf den zerkratzen Scheiben der Linie 1 ist „Mare“ zu lesen und „Blues“. Ab Gleisdreieck fährt die Berliner U-Bahn über der Erde durch Kreuzberg. Elegant wie ein Papierdrachen schlängelt sie sich über dem Landwehrkanal dahin. Kein Kind, das im Waggon nicht auf den Sitz klettert und sein Gesicht an die Scheibe drückt. Zu magisch die Stadt, die unten vorbeizieht. Wenn der Zug den Bahnhof am Halleschen Tor ostwärts verlässt, packt die Kleinen kollektive Unruhe. „Wasser“, rufen sie auf den Bänken wie im Chor, sobald sie das Prinzenbad sehen. Die Erzieherinnen sagen: „Nicht mit den Füßen auf die Sitze.“ Die Kinder: „Wann macht das Schwimmbad wieder auf?“ Die Erzieherinnen: „Jetzt geht doch mit den Füßen von den Sitzen!“ „Da schwimmt wer“, ruft ein kleines Mädchen. „Wo, wo?“

Vom Kalender her ist das Warten seit Wochen zu Ende. Das meistbesuchte Freibad der Stadt ist wieder geöffnet. Neu ist, dass kaum einer hingeht. Nicht wegen der fehlenden Sonne.

Bis zu eine halben Million Menschen kamen jeden Sommer ins Prinzenbad. Auch letztes Jahr noch. Selbst wenn das Wetter schlecht war. Der Ort war Kult. Wer hier war, hat durch bloßes Zuschauen Kreuzberg verstanden. Mit seinen Verwerfungen, Unterschieden, Unverständlichkeiten. Und er hat es geliebt. In der Dichte, mit der die Leute aufeinander hockten, offenbarte sich das Lebensgefühl der Menschen in dieser Ecke Berlins. Bleich, rothaarig, braun gebrannt. Mit „wat denn“, „ne var“ (was denn?) und „schto takoj“ (was ist denn?). Dazu der süßliche Duft von Lichtschutzfaktor und Chlor gemischt mit salzigem Schweiß. So wurde das Prinzenbad Kulisse von unzähligen Stadtkrimis. Auch Diplomarbeiten, ja sogar Liebesgedichte wurden dort verfasst. Verschwommene Gedanken, notiert auf nass gewordenen Fetzen Altpapiers. Und nun: Das Ende einer Legende. „Leer“, sagt eine Frau, die früher jeden Tag kam. Mit ihrem Arm beschreibt sie einen Halbkreis. „Hier war doch sonst immer wer da.“

Alle sind ins Prinzenbad gekommen. Vom ersten Tag im Mai bis zum letzten im September: Sozialhilfeempfänger und Millionäre, Menschen auf „Versicherungsurlaub“ und Arbeitslose, Hysterische und Sonnenhungrige, Leute mit gebrochenen Beinen und solche mit gebrochenen Herzen, Liebespaare und Alleinerziehende, Voyeure und Asketen. Es kamen türkische Mädchen, die sich den Aufenthalt gegen streng religiöse Eltern erkämpft hatten und mit Badekappe und Radlerhosen ins Wasser gingen, es waren Kinder jeder Hautfarbe da, Kinder mit Sonnenbrand, Kinder, die sich ihre Eintrittskarte mit Müllsammeln verdienten, und Jugendliche, die über die Zäune kletterten.

An heißen Tagen verrichteten die Angestellten Schwerstarbeit: Mehr als 10.000 Badegäste auf einmal wurden in den drei Becken und auf der Wiese gezählt. „Nicht von der Seite springen! Macht die Zigaretten aus! Mit dem Ball sofort aus dem Wasser! Verlassen Sie Ihren Platz sauber, das ist hier kein Saustall!“, echote es über die Lautsprecher. „Wenn die Luft brannte, stieg die Aggression“, erzählen die Bademeister. Polizei undercover – in Badehose also – war vor Ort.

Dicht besiedelt ist das Gebiet, in dem die Stadtoase liegt. Im Prinzenbad können Sozialstudien gratis gemacht werden. Früher an denen, die kamen, nun an denen, die wegbleiben.

In den 80er- und 90er-Jahren waren die Probleme, über die geforscht werden konnte, noch zwischenmenschlicher Art. Da erregte die Sichtblende für die FKKs die Gemüter. Nirgends war Nacktsein umstrittener als hier. Bevor die Entblößten sich breit machten, picknickten türkische Großfamilien – das Essen auf Tapeziertischen ausgebreitet – sonntags auf der Wiese. Mit der ersten dargebotenen Brust, dem ersten unverhüllten Penis verschwanden sie. Später kletterten Jugendliche vom Landwehrkanal aus über den stacheldrahtbewehrten Zaun, um die verbotenen Körper zu sehen.

Das nächste Highlight, das ein Sommerloch füllte, setzte die „Kassierer-Bande“. Jahrelang hatte sie die Eintrittskarten doppelt verkauft und folglich nur zur Hälfte abgerechnet. Jenen, denen die Badetaschen samt Inhalt geklaut wurden, erzählten sie, dass nichts zu machen sei. Die unehrlichen Kassierer wurden überführt und verurteilt.

Egal was passierte, die Stammgäste blieben. Je mehr Tamtam, desto mehr wurde es zu ihrem zweiten Zuhause im Sommer. Die Saisonkarten waren der Schlüssel zum Eingangstor. Keine Wohngemeinschaft der Stadt war so groß wie diese und ertrug die Nähe der anderen Leute so gut, obwohl die Unterschiede zwischen den Prinzenbadbewohnern charakterlicher Art waren: Bei den „Frühbadern“, so der Jargon der Eingeweihten, herrschte Disziplin und widerspruchslose Körperertüchtigung. Dann gab es Leute, die jeden Tag hier verbrachten, die immer da waren. Kurz vor Kassenschluss aber tauchte die Abendschicht auf. Zielsicher schlenderten die meisten, die dazugehörten, zu den Steintreppen beim vorderen Becken. Wie Eidechsen lagen sie, die sich mit der Zeit vom Sehen her kannten, nebeneinander in der untergehenden Sonne. Manchmal bewegte sich niemand vom Fleck. Es sollen sich so gar Paare gefunden haben. Auch in der Männerdusche passierte in dieser Hinsicht wohl einiges, wird erzählt. Allen aber bot sich die eingecremte Sinnlichkeit des orientalischen Narziss dar, der täglich ins Prinzenbad ging. Hade sein Name. Den in Pose geworfenen Körper stellte er zur Bewunderung aus. Für den Rest der Besucher wurde er zum sprechenden Spiegel. Sein „Du bist dicker geworden“ mitnichten ein Kompliment. Narziss kommt noch bis August. Dann werden die Saisonkarten ungültig. Neue werden nicht ausgegeben. „Traurig ist das alles“, sagt er.

Das Bad liegt in der ärmsten Gegend Berlins. Ein Drittel der Kreuzberger hat keinen deutschen Pass. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 20 Prozent, weitere 20 Prozent der Bevölkerung erhalten Sozialhilfe. Unter den Jugendlichen, vor allem denen nicht deutscher Herkunft, liegt die Arbeitslosigkeit sogar bei über 40 Prozent. Es ist statistisch verbrieft, dass die Lebenserwartung der Bewohner und Bewohnerinnen des Bezirks etwa fünf Jahre kürzer ist als im Rest der Stadt. Das Prinzenbad ist aus sowohl gesundheitlichen als auch hygienischen und sozial befriedenden Gründen eine Notwendigkeit, sagen Befürworter unisono. Unter den neuen Berliner Verhältnissen wird ihnen vorgeworfen, ihre Fürsprache sei altmodisch und rührselig.

Diplomarbeiten und sogar Liebesgedichte wurden im Prinzenbad verfasst

Dass Politik und Kleinkriminalität Geschwister sind und zu Berlin gehören wie Currywurst, Fernsehturm und Größenwahn, lässt sich am Prinzenbad vortrefflich studieren. Wer das Bad versteht, versteht, wie es hier läuft. Selbstredend geht es von unten nach oben: Da sind die kleinen Ganoven, die den Badenden die Geldbeutel klauen. Sowas kommt vor. Deshalb wird an heißen Tagen Polizei vorbeigeschickt. Dann die Episode mit den Kassierern, die den Bezirk, dem das Bad damals noch unterstand, um das Eintrittsgeld betrogen. Mitte der 90er-Jahre aber hat der Senat dann allen Bezirken die Befugnis über die Bäder genommen und sie in einer Anstalt öffentlichen Rechts, den „Berliner Bäder-Betrieben“ zusammengefasst. Zwecks hauptstädtischen Sparens. Als Erstes wurden gut bezahlte Vorstände – nach Parteienproporz – bestellt und die Eintrittspreise erhöht. Wegen Misswirtschaft wurden die Vorstände im Herbst 2000 wieder entlassen. Mittlerweile sind Strandbäder privatisiert, 14 Hallenbäder geschlossen und bei den noch verbliebenen die Eintrittspreise so verteuert, dass Preisempfindlichkeit eingetreten ist. Vier Euro Standard und drei ermäßigt. Für viele Kreuzberger zu viel. Jeder Münchner hat im Schnitt eine um 1.000 Euro höhere Kaufkraft pro Jahr. Die Bäderpreise liegen dort jedoch ein Drittel niedriger als hier.

Die Leute sind wütend. Wer kann, geht an die Seen. Uferzerstörung hin oder her. Die Geschichte um das Prinzenbad aber ist noch nicht zu Ende. Volkszorn könnte das diesjährige Sommerloch füllen. Heute jedenfalls ist Aktionstag rund ums Bad. Denn allmählich begreifen die Hauptstadtbewohner die politischen Zusammenhänge. Einerseits gibt es risikofreie Investmentfonds der angeschlagenen Berliner Bankgesellschaft zu luxuriösen Konditionen. Deren garantierte Gewinne sollen nun 20 Jahre lang von den hauptstädtischen Steuereinnahmen gedeckt werden. Republikweit profitieren Leute aus Politik, Wirtschaft und Kultur davon. Andererseits gibt es einen Eintrittspreis ins Schwimmbad, den die Berliner Bevölkerung en gros nicht mehr bezahlen kann, weil der Senat die Bäder nicht länger als kommunale Aufgabe betrachtet, die es in gebotenem Maße zu subventionieren gilt.

Seit die Badesaison wieder eröffnet ist, werden vor dem Prinzenbad Familien beobachtet, die nach dem Blick auf die Preisliste umkehren, oder Mütter, die ihre Kinder ins Bad schicken und draußen warten, um so den eigenen Eintritt zu sparen. Auseinandersetzungen mit Kassierern soll es auch schon gegeben haben, erzählen Besucher. Fürs Prinzenbad wurden gar Unterschriften gesammelt und ein Protestbuch ausgelegt. „Macht sich ein leeres Bad bezahlt?“, ist darin zu lesen.

Nur einmal diesen Sommer, am 18. Juni bei 37 Grad, war alles wieder beim Alten. An diesem Tag reiste Kreuzberg – wie früher – ins Prinzenbad. Zu heiß war es, um draußen zu bleiben. Erschöpfte Mütter zwischen grölenden Kindern, dickleibige Amateurringer neben sonnenverbrannten Taxifahrerinnen, verschwitze Bild-Leser Seite an Seite mit arbeitslosen Feministinnen. Mallorca ist weit. Noch einmal war das Café im Bad die Hotelbar. Mit Cola, sauren Krokodilen, Pommes, Eiscafé und Bier. Alle drängten sich auf der Terrasse, wo es heiß und klebrig, laut und wirr, aber auch freundlich ist. Spatzen und Pfandflaschen sammelnde Kinder umschwirren die Tische, sobald sich jemand hinsetzt. Jeder Krümel, jeder Cent zählt.

Zu allen Facetten des sinnlichen Vergnügens gab es schweißgetränkte Kreativität. Nicht nur Backgammon, auch Bauchtanz. Nicht nur Fußball, auch Akrobatik. Nicht nur Radio, auch Gesang. Ein Tag lang stand einem glücklichen Sommer atmosphärisch nichts im Weg, außer der abendlichen Warnung, die über die Lautsprecher dröhnte: „In fünfzehn Minuten ist Feierabend!“

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