özdemirs geldnot: Schwach bei Kasse und Verstand
Sich selbst Naivität zu bescheinigen ist ungefähr das Dümmste, was dem grünen Politiker Cem Özdemir zur Erklärung seiner Darlehensnahme von dem PR-Berater Moritz Hunzinger einfallen konnte. Kein Mensch hat Özdemir gezwungen, die frustrationsreiche Karriere eines Abgeordneten einzuschlagen. Als er es dennoch tat, musste er wissen, dass allem Zynismus zum Trotz, mit dem das Publikum die Tätigkeit von Abgeordneten begleitet, an deren charakterliche Performance andere Maßstäbe angelegt werden als an die von Geschäftsleuten oder anderen Interessenvertretern. Das Bedürfnis nach persönlicher Integrität von Volksvertretern ist offenbar unausrottbar. Es erstreckt sich nicht nur auf die Forderung, Gesetze einzuhalten. Sondern auch auf ungeschriebene, aber klar definierbare Verhaltensregeln. Zu ihnen gehört, sich kein Geld von Leuten zu borgen, zu deren Broterwerb die Herstellung von Kontakten zwischen Politikern und Lobbyisten zählt.
Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER
Zwischen der Geldgier Scharpings und der Geldnot Özdemirs gibt es ein kleinstes gemeinsames Vielfaches: Sie haben sich zur Linderung ihrer Schmerzen an die falsche Adresse gewandt. So etwas nehmen wir, die wir immer noch an die schönen Dinge aus der Wundertüte mit der Aufschrift „politischer Anstand“ glauben, übel. Denn wir, die Nichtprofis, haben ein Recht auf Naivität.
Dennoch sollte man gegenüber dem nicht mehr ganz jugendlichen Naiven Özdemir Milde walten lassen. Er schämt sich, es gebricht ihm an Kaltblütigkeit, die beispielsweise den engsten „Kontakt“ Hunzingers, Hessens Ministerpräsidenten Roland Koch, bei der Beseitigung von Kellerleichen auszeichnet. Hätte sich Özdemir zwecks Darlehen an die Bank, zwecks Schärfung seines politischen Profils aber an eine Public-Relations-Agentur gewandt, so wäre alles in schönster Ordnung.
Sein Pech, dass Hunzinger beide Funktionen miteinander vermengt, ein Umstand, der ihm jetzt von PR-Managern angekreidet wird. Denn Hunzingers Transaktionen spielen im Halbdunkeln, während die politischen Werbeagenturen nach Transparenz, geradezu nach dem Licht der Öffentlichkeit streben. Ihr stetes Mühen, die politische Kultur auf die drei E (Erlebnis, Emotion, Event) herunterzubringen und der politischen Praxis noch den kleinsten Ideenrest auszutreiben, erfreut sich allgemeiner Anerkennung. Deshalb heißt es jetzt für Özdemir: Klüger werden und rasch zur richtigen Agentur wechseln!
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