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Der sentimentale Sozialist

Als Politiker ist Gregor Gysi immer von dem Wunsch gejagt worden, ein ganz anderer zu sein. Vielleicht hat er sich dies mit seinem Rücktritt erfüllt

von JENS KÖNIG

Das erste Mal wollte Gregor Gysi sich aus dem Staub machen, als er gerade mal vier Wochen Parteivorsitzender war. Am 21. Januar 1990 trat Wolfgang Berghofer als Gysis Stellvertreter zurück und gleich auch noch aus der SED-PDS aus. Gysi schrieb in der Nacht darauf einen wehleidigen Brief an seine Genossen und verlas ihn am nächsten Morgen im Parteipräsidium. Er wollte Schluss machen. Lothar Bisky meldete sich in der Sitzung als Erster zu Wort. Er machte drei Vorschläge. Erstens: Der Brief darf dieses Haus auf keinen Haus verlassen. Zweitens: Gysi wird nach Hause geschickt und soll sich 48 Stunden ausschlafen. Drittens: Die anderen Präsidiumsmitglieder fangen endlich an, richtig zu arbeiten.

In den wirren Wendezeiten nannten sie das Politik. Gysi blieb Parteichef. Und hatte in Bisky einen neuen Freund.

Diese Nummer hätten die Genossen am Mittwoch gern noch mal gegeben. Gysi vom Rücktritt abgehalten wegen dieser läppischen Bonusmeilen-Geschichte und ihn zum Schlafen nach Hause geschickt. Aber Gysis Entscheidung stand fest. Er hat sie allein getroffen. Ohne die Partei, an der er emotional hängt, aber von der er sich so sehr entfremdet hat.

Das erste Mal zurückgetreten ist Gregor Gysi im Januar 1993. Ermüdet von den innerparteilichen Kämpfen, zermürbt von dem eisigen Klima in Bonn, genervt von den Stasi-Verdächtigungen legte er sein Amt als PDS-Vorsitzender nieder. „Ich will nicht von der Politik abhängig werden“, sagte er damals.

Gysi hat seitdem noch oft über Rücktritte gesprochen – kokett, eitel, drohend, moralisierend, aber nie grundlos. Gysi ist harmoniesüchtig. Er hat es immer gemocht, der zu sein, der er war, und es schmeichelte ihm, dafür auch noch geliebt zu werden. Aber als Politiker ist Gysi auch immer von dem Wunsch gejagt worden, ein ganz anderer zu sein.

Im Westen übersetzt man diesen Wesenszug gern mit Larmoyanz. Da ist sogar etwas dran, vielen Ostdeutschen fehlt es an einer gewissen Härte. Aber in Bezug auf Gysi wird dabei vergessen, dass ihn nicht der Wunsch nach Karriere, sondern eine historische Ausnahmesituation in die Politik gespült hat.

Gysi, der clevere Anwalt, wollte nie ein „normaler“ Politiker sein. Vor zwei Jahre bekannte er sogar einmal, in seinem Innern gar kein Politiker zu sein. Ihm fehlt die Ausdauer, die Demut vor dem Amt, die Mittelmäßigkeit. Gysi ist intelligent. Er langweilt sich schnell. Er braucht den Widerstand. Er will den großen Auftritt. In der DDR hat er nicht irgendwen, sondern Havemann und Bahro verteidigt, die größten Gegner des SED-Regimes.

Für seine Partei war Gysi ein Glücksfall. Er hat erst ihr Vermögen und dann sie selbst gerettet. Gysi war zwölf Jahre der führende Kopf der PDS und die Ikone aller Ostdeutschen. Er hat in diesen zwölf Jahren aber auch an der Politik gelitten. Sie hat ihn aufgefressen und oft einsam werden lassen. „In der Politik gibst du die Souveränität über dich auf“, sagt Gysi, „du verfügst nicht mehr über dich; nicht über dein öffentliches Bild, nicht über dein Image, nicht über deine Zeit.“

Gysi hat über die Zumutungen der Poltik geklagt und darüber nicht gemerkt, dass er längst das Opfer seiner selbst geworden war. Gysi redete und redete und redete, weil er Angst hatte, mit dem Reden aufzuhören.

Vor zwei Jahren verabschiedete er sich ganz aus der Politik und nannte es eine Lebensentscheidung. Er wollte wieder als Anwalt arbeiten. Schon ein Jahr später nahm er seine Entscheidung zurück und wollte Regierender Bürgermeister von Berlin werden. Gysi war getrieben von seiner Eitelkeit und der Vorstellung, er, Gregor Gysi, könnte endlich regieren. In der deutschen Hauptstadt. Aber vor allem war er getrieben von der Angst, ohne Politik, ohne Öffentlichkeit in ein tiefes Loch zu fallen.

Gysi wurde Wirtschaftssenator und bekämpfte die Durchschnittlichkeit dieses Jobs mit viel Geschick und einem 16-Stunden-Arbeitstag. Er ist nicht an diesem Amt gescheitert, auch wenn er natürlich sah, dass der rot-rote Senat der Hauptstadt nicht den versprochenen Aufbruch bescherte. Er war höchstens im Stillen verzweifelt – über sich selbst. Und dieser Verzweiflung hat er freien Lauf gelassen, als die Geschichte mit den Bonusmeilen aufflog.

Sie muss ihn ernsthaft geschockt haben. Er nimmt Privilegien in Anspruch, ohne es zu merken. „Ich habe mich von meinen Wählerinnen und Wählern entfernt“, schreibt er fassungslos in seiner Rücktrittserklärung. „Ich fürchte mich vor meinen eigenen Persönlichkeitsveränderungen.“ Das sind vielleicht eitle, egoistische, moralisch überladene Sätze. Aber es sind auch ehrliche Sätze. Gysi meint sie genauso, wie sie da stehen.

Gysi hat ein sentimentales Verhältnis zum Sozialismus, was auch immer er darunter versteht. Seine ganze Familiengeschichte ist damit verbunden. Seine Großmutter Erna, eine Jüdin, trat 1920 in die KPD ein. Sein Vater, seine Mutter, Verwandte – alles Kommunisten, viele von ihnen Juden, von den Nazis verfolgt oder ermordet, viele später in der DDR politisch verstrickt. Als Gregor Gysi SED-Chef wurde, tat er das auch, weil er die Linken endlich mit der Vernunft versöhnen wollte.

Am Tag seiner Wahl am 9. Dezember 1989 bekam Gregor Gysi einen riesigen Besen geschenkt. Er sollte damit den ganzen Saustall ausmisten. Dabei ging es in jenem Herbst zuallererst um den Amtsmissbrauch der SED-Funktionäre. Was sich hinter den Mauern von Wandlitz abspielte, hatte die Öffentlichkeit gerade erst erfahren.

Vielleicht hat Gysi in den letzten Tagen an diesen Besen gedacht. Vielleicht hat er sich deswegen so über sich selbst erschrocken. In dieser Verzweiflung interessierte ihn dann nichts mehr – nur noch er selbst.

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