: Geld für Las Vegas
aus Bratislava KENO VERSECK
Der Bürgermeister von Gerlachov, einer Gemeinde hoch in der Hohen Tatra, kann sich nicht beklagen. Bei ihm sei unlängst ein amerikanischer Investor gewesen, der wolle im Ort ein kleines Las Vegas einrichten, erzählt Ján Gasper mit leuchtenden Augen. Und wenn Klein-Las-Vegas wirklich komme, dann seien alle seine Finanzprobleme auf einen Schlag gelöst.
Doch Ján Gasper ist eine Ausnahme. Je mehr die anderen slowakischen Bürgermeister an diesem Tag von ihrem Amtsalltag erzählen, umso gedrückter wird ihre Stimmung. „Wir rutschen bei den Ministerien in der Hauptstadt auf Knien, um Geld zu bekommen“, sagt Milan Fecko, der Bürgermeister des nordostslowakischen Städtchens Svít. Nur die Einnahmen aus der Liegenschaftssteuer und aus verschiedenen Gebühren gingen nicht direkt nach Bratislava. „Auf den uns zustehenden Anteil des Steueraufkommens aber müssen wir warten, warten, warten.“
Die Bürgermeister sind mit ihren Orten Mitglieder in der slowakischen Assoziation der Städte und Gemeinden (SMOS), die seit Jahren für eine Verwaltungsreform streitet. Sie hat letztes Jahr begonnen – doch hat sie zunächst für Städte und Gemeinden mehr Pflichten und nicht mehr finanziellen Rechte gebracht, beschweren sich die Bürgermeister. „Wenn wir und unsere Kollegen überall in der Slowakei nicht täglich Wunder vollbringen würden“, sagt Fecko, „dann sähe es noch viel schlechter aus in diesem Land.“
Der Kontrast könnte kaum deutlicher sein: Nachdem der autoritäre Ministerpräsident Vladimír Mečiar und seine Bewegung für eine demokratische Slowakei (HZDS) 1998 abgewählt wurden, ging es für die Slowakei außenpolitisch steil aufwärts. Anders als vor vier Jahren stehen die Chancen, dass die Slowakei im Herbst Nato- und dann 2004 EU-Mitglied wird, derzeit bestens. Doch im Land selbst herrscht Missstimmung – über die dauernden Streitigkeiten in der Regierungskoalition, über Reformchaos, über Korruption und hohe Arbeitslosigkeit.
Regenbogenkoalition
Und so wird die bunt zusammengewürfelte Regierungskoalition aus Exkommunisten, Sozial- und Christdemokraten, Liberalen und ungarischer Minderheit bei den Wahlen am Freitag und Samstag ihre Mehrheit mit Sicherheit verlieren.
Für die Slowakei gehe es um nichts weniger als um ihre Zukunft in Europa bei diesen wichtigsten Wahlen nach der Unabhängigkeit 1993, spitzen Regierungspolitiker im Land die Situation zu. Ivan Mikloš etwa, Vizeministerpräsident und einer der Vordenker der Wirtschaftsreformen, verteidigt die Bilanz der Regierung: „Wir haben fast alle Staatsbetriebe und -banken privatisiert. Unter unserer Regierung sind ausländische Investoren ins Land gekommen. Wir haben die EU-Verhandlungen schnell vorangebracht. Wenn Mečiar und seine Partei nach der Wahl in einer Regierung sitzen würden, dann würde das die Slowakei aus dem EU-Integrationsprozess herauskatapultieren.“
Auch die Politiker der Ungarischen Koalitionspartei (SMK) – Vertreter der 600.000 Ungarn in der Slowakei – warnen vor einer Rückkehr Mečiars. „Im Verhältnis zwischen Ungarn und Slowaken ist endlich eine Normalisierung eingetreten“, sagt der Lokalpolitiker Lajos Ladányi aus der Region Nitra. „Dass zum Beispiel auf kommunaler Ebene in den Ämtern auch ungarisch gesprochen wird, ist zu einer fast banalen Angelegenheit geworden. Das ist unserer Regierungsteilnahme zu verdanken.“
Ohne Rezept zum Erfolg
Der autoritäre Exregierungschef, der das Land bis zum Zerreißen polarisiert hatte, könnte jedoch ein Gespenst der Vergangenheit sein. Seine HZDS, lange Zeit Wahlfavorit und eine monolithisch scheinende Partei, ist inzwischen in Flügelkämpfe verstrickt; vor Wochen hat sich eine Fraktion abgespalten. In Umfragen hat die HZDS ihre führende Position verloren.
Überraschungssieger und nächster Ministerpräsident könnte daher ein Mann werden, der eine Art modernisierter Mečiar ist: Robert Fico. Der 37-jährige Jurist hat als Vertreter der Slowakei beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof Bekanntheit erworben und vor zweieinhalb Jahren die Partei Smer (Richtung) gegründet – eine Partei, die mit Slogans wie „Ordnung, Recht, Stabilität“, „100 Entscheidungen in 100 Tagen“ oder „Nach Europa ja, aber nicht mit nacktem Hintern“ wirbt.
Ohne dass Smer Parlamentserfahrung vorweisen kann, beruht ihr Erfolg fast nur auf der Persönlichkeit ihres Führers, der beliebtester Politiker im Land ist. Fico hat die Orientierungslosigkeit nach links und rechts zum Erfolgsrezept gemacht. Er versteht es, trotz seiner unverhüllten persönlichen Ambitionen auf die Macht, den Eindruck zu erwecken, er wolle allein dem slowakischen Nationalinteresse dienen. Er klopft populistische Sprüche, ohne Volkstribun zu sein, und schlägt nationalistische Töne an, während er sich gleichzeitig als der prowestliche Mann darstellt, der die Slowakei am besten in die EU führen kann.
Tatsächlich profitiert Fico vom unprofessionellen Regierungsstil der „Regenbogenkoalition“ in den letzten vier Jahren. So konnte sie nur unter größten Mühen ihre beiden als historisch apostrophierten Reformprojekte durchsetzen: die vor anderthalb Jahren verabschiedete Verfassungsreform und die im letzten Jahr begonnene Verwaltungsreform. Mit der Verfassungsreform erhielt unter anderem die EU-Gesetzgebung Vorrang vor anderslautenden slowakischen Gesetzen, die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes und des Staatlichen Rechnungshofes sowie die Institution des Ombudsmannes wurden eingeführt. Mit der Verwaltungs- und Territorialreform wiederum wurde eine umfassende Dezentralisierung und Teilföderalisierung der Slowakei eingeleitet. An den Debatten um beide Reformprojekte wäre die Koalition fast zerbrochen.
Überschattet von der fehlenden innenpolitischen Stabilität wird auch der größte außenpolitische Erfolg: die in greifbare Nähe gerückte EU-Mitgliedschaft. Nachdem das Land unter Mečiar wegen dessen undemokratischer Amtsführung von der euroatlantischen und EU-Integration ausgeschlossen war, begann es EU-Aufnahmeverhandlungen erst Mitte 2000 – zwei Jahre später als seine Nachbarn Polen, Tschechien und Ungarn. Die konnte es inzwischen jedoch ein- und zum Teil überholen, wie Regierungspolitiker immer wieder stolz betonen. 27 der 31 Verhandlungskapitel hat die Slowakei abgeschlossen, bis Jahrsende sollen die verbleibenden Kapitel zu Ende verhandelt werden.
Mária Kadlecíkova, stellvertretende Ministerpräsidentin und Koordinatorin des EU-Integrationsprozesses, sieht ihr Land schon wie selbstverständlich in der Europäischen Union: „Unsere Bürger wollen in die EU und sind darauf vorbereitet. Wir haben ihnen nicht verheimlicht, dass die Situation unmittelbar nach dem Beitritt, vielleicht ein Jahr lang, schwierig wird. Es wird einen Preisschock geben, Unternehmen, die nicht wettbewerbsfähig sind, werden dichtmachen müssen. Soziale Revolten wird es deshalb nicht geben.“
Der slowakische EU-Chefunterhändler Ján Figel rückt diese idyllische Vision etwas zurecht. „Es stimmt, 80 Prozent der Leute sind für einen EU-Beitritt. Dennoch ist es manchmal schwieriger, zu Hause zu verhandeln, als in Brüssel“, sagt er. „Manche Leute haben eine etwas simple Vorstellung von der EU. Aber sie ist nicht das Paradies auf Erden.“
Zwar bescheinigt die EU der Slowakei eine funktionierende Marktwirtschaft. Doch das Bruttosozialprodukt des Landes beträgt nur knapp die Hälfte des EU-Durchschnitts. Vielleicht zwei Jahrzehnte könnte es dauern, bis das EU-Niveau erreicht ist. Hinter der konstant hohen Arbeitslosigkeit von fast 20 Prozent verbirgt sich ein tiefes Strukturproblem: Dem entwickelteren Westteil des Landes steht ein armer Osten gegenüber, in dem die frühere kommunistische Schwerindustrie brachliegt.
Die Bürgermeister aus der Tatra-Region setzen fast all ihre Hoffnungen auf die EU-Integration. Haben sie eine zu simple Vorstellung von der Union? Sie verneinen – etwas unsicher. Sie könnten Gelder aus verschiedenen Fonds bekommen, sagen sie – Gelder, die die Slowakei nicht hat. Ein Bürgermeister würde gerne einen Kredit für die Kläranlage im Dorf beantragen, den müsste er dann nicht zurückbezahlen. „Und vielleicht“, sagt Milan Fecko, „kommt durch die EU-Gesetzgebung auch endlich mehr Ordnung in die Arbeit der Regierung.“
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