: Ziel: Schussfahrt ins Exil
Noch ist unklar, wer Jan Ullrichs neuer Arbeitgeber wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er zum dänischen Profiteam CSC wechselt
von FRANK KETTERERund MARKUS VÖLKER
Der Sturz ist tief. 20 Meter mindestens sind es, vielleicht sogar 30, die der Mann auf dem Rennrad die steile Böschung hinunterpurzelt, nachdem ihn ein chromglänzender Lastwagen abgedrängt hat – von der Straße mitten hinein ins Meer. „Im Leben wird man schon mal aus der Bahn geworfen“, ist passend dazu zu lesen – und gleich darauf taucht Jan Ullrich wild pedalierend wieder auf aus dem Wasser und strampelt flott davon, so, wie einer das tut, der schon mal die Tour de France gewonnen hat. „Hauptsache, man kommt wieder hoch“, erscheint nun auf dem Bildschirm.
Zugegeben: Es ist nur ein Werbespot für einen Müsliriegel. Andererseits: Die Geschichte des Radprofis Jan Ullrich ließe sich in knapp 30 Sekunden kaum treffender verfilmen: Tiefer Sturz, freier Fall, schließlich der kräfteraubende Weg zurück aus dem Meer der Tränen. Das ist schon mehr als nur ein Werbefilmchen. Im Falle Ullrich ist es ein Stück Lebensgeschichte, wobei das Ende in der Realität noch offen ist und bisher nicht viel mehr steht als eine große Ankündigung. „Ich suche eine neue Herausforderung, einen völligen Neuanfang. Ich weiß, dass ich meine Fähigkeiten noch nicht voll ausgeschöpft habe. Ich möchte mit neuer Motivation in die kommende Saison starten“, hat der 28-Jährige am Mittwoch auf seiner Homepage wissen lassen – und dass er sich genau aus diesem Grunde von seinem bisherigen Arbeitgeber, dem Team Telekom, nach über sieben Jahren trenne.
Welcher Sportler sucht sie nicht, die neue Herausforderung? Doch was müsste sich tun, damit Jan Ullrich wieder zum Hegemon der Radszene aufsteigen und noch einmal die Tour de France gewinnen kann? Es braucht sicherlich keinen „Schnitt“, wie Ullrich verkündete. Radikale Neuanfänge sind ohnehin nur billiger Kitsch, den sich ein zweifelndes Ego leistet. Ullrich müsste nichts neu und vollkommen anders, sondern von allem ein bisschen mehr, alles etwas konsequenter machen: einen Tick ernährungsbewusster leben, auch im Winter viele Kilometer schrubben, früher in die Saison einsteigen. Vor allem aber: sich nicht ausschließlich in ein Netz von Betreuern legen. Ullrich müsste die Motivation zum eigenen Projekt machen und sich nicht Gewährs- und Hintermännern überlassen. Ullrich müsste den Tour-de-France-Sieg selbst wollen, mit jeder Muskelfaser.
Mit dem Schritt, sich vom Team Telekom zu lösen, emanzipiert sich Jan Ullrich, der den Radsport in Deutschland populär gemacht hat wie Boris und Steffi das Tennis, von den alten Wegbegleitern. Das war überfällig. Dass ihm nur noch ein neues Umfeld zurück in die Erfolgsspur würde lenken können, war seit den Zwistigkeiten mit der Telekom-Teamführung klar. Ullrich wird wohl zu seinem alten Wegbegleiter Bjarne Riis wechseln, der das Profiteam CSC betreut. „Wir wollen ihn und sind in Verhandlungen“, gab Riis gestern zu. „Aber bevor mit dem neuen Sponsor noch nichts hundertprozentig ist, kann ich keinen Vertrag machen.“ Dessen Einstieg, im Gespräch ist ein deutsches Großunternehmen, könnte die im Raum stehende Verpflichtung Ullrichs nun sogar beschleunigen. Der Deal: Ullrich öffnet dem dänischen Team den deutschen Markt – und CSC kann sich mit dem Geld ein noch stärkeres Team leisten. Ullrich führte Riis 1996 zum Toursieg, damals noch als Edeldomestike. Ein Jahr später erklomm der Helfer den Gipfel des Radsports selbst und musste fortan mit dem Vorwurf leben, sein Talent fahrlässig nie ganz auszuschöpfen.
So blieb trotz seiner Erfolge, die er Jahr für Jahr pflichtschuldig ablieferte, der schale Beigeschmack, dass da einer schlampig umgeht mit seinen Anlagen. „Ulle“, wie der Merdinger von Fans genannt wird, gewann in Folge zwar Spanienrundfahrt, Olympia und Weltmeistertitel, aber er verlor Sommer für Sommer die Tour – und das, obwohl vor fünf Jahren, bei seinem Sieg, noch behauptet wurde, er könne die Frankreichrundfahrt über Jahre hinweg dominieren, so wie einst der große Eddy Merckx. Dass dies seither ausgerechnet der Amerikaner Lance Armstrong tut, macht Ullrichs Schwäche nur noch deutlicher: Der Texaner gilt als akribischster Arbeiter im Peloton, als Asket, der nichts dem Zufall überlässt, schon gar nicht die eigene Form. Oder, um es überspitzt zu formulieren: Während der Ami sich bereits im Winter die Serpentinen der Alpen und Pyrenäen hinaufquälte, um das Terrain für den Sommer zu studieren, stand „Ulle“ noch pausbäckig an der nächsten Tanke und hortete eine Ladung Schokoriegel oder pfiff sich zu später Stunde in der Disco ein paar Pillchen ein. Von Armstrong wurde solches bisher nicht bekannt, von ihm weiß man nur, dass er einst gar den Krebs besiegt hat. Nicht nur deswegen gilt Armstrong als der pure Gegenentwurf des Deutschen. Ob Ullrich bei vollem Ausschöpfen seines Talents diesen Amstrong einmal wird schlagen können, muss sich freilich erst noch erweisen. Als gesichert gilt hingegen, dass er bei einer wirklich seriösen Vorbereitung zumindest nicht wieder gänzlich ohne Chancen am Start stehen wird.
Noch kann Jan Ullrich an ein solches Vorhaben nur Gedanken verschwenden, noch kämpft er mit den Nachwehen seiner beiden Knieoperationen. Anfang Oktober will der 28-Jährige wieder aufs Rad steigen, bis 23. März nächsten Jahres ist er ohnehin gesperrt – wegen Medikamentenmissbrauchs. Was danach kommt? Bisher ist das nur im Werbespot zu sehen.
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