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Vorsicht nach dem Wahltriumph

Die religiös-konservative AK Parti feiert einen überwältigenden Wahlsieg in der Türkei. Ihr Führer versichert Toleranz und politische Kontinuität

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Wir werden alle Lebensstile in diesem Land tolerieren.“ Geradezu beschwörend redet Tayyip Erdogan auf die jubelnde Menge ein. „Bleibt ruhig. Wir wollen keine Provokationen.“ Als der Parteivorsitzende sich um 23 Uhr zum ersten Mal der jubelnde Menge vor dem Hauptquartier seiner AK Parti in Ankara zeigt, hat er vor allem eins im Sinn: den überschäumenden Jubel seiner Anhänger zu dämpfen und beruhigende Signale an die übrige Gesellschaft auszusenden. Obwohl um diese Zeit erst gut die Hälfte der Wahlbezirke ausgezählt ist, gibt es am Ergebnis keine Zweifel mehr. Die erst vor einem Jahr neu gegründete AK Parti (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) hatte die absolute Mehrheit im Parlament. 363 von 550 Sitzen erreichte sie schließlich, nur sechs Sitze von der Zweidrittelmehrheit entfernt. 178 Sitze fallen an die sozialdemoktatische CHP, die eine konstruktive Opposition ankündigte. Alle anderen, darunter die bisherigen Regierungsparteien, scheiterten an der Zehnprozenthürde.

„Die soziale Explosion fand an der Wahlurne statt“, beschrieb die größte türkische Zeitung Hürriyet die vollständige Umwälzung der politischen Landschaft gestern und traf damit den Nagel auf den Kopf. Wann immer man im Vorfeld der Wahlen einfache Leute nach ihren Wünschen und Hoffnungen fragte, bekam man dieselbe Antwort: Wir wählen Tayyip Erdogan nicht aus religiösen Gründen, sondern weil die anderen das Land und uns ruiniert haben. Vor allem in der zentralanatolischen Provinz hatte keine andere Partei eine Chance. Die farbige Wahlkarte der Türkei zeigte am späten Sonntagabend ein dreigeteiltes Land: der westliche Rand entlang der Ägäis- und Mittelmeerküste war blau (CHP), die gesamte innere Türkei plus der Schwarzmeerküste grün (AK Parti) und der Südosten entlang der irakischen und iranischen Grenze prangte in Lila, für die prokurdische Dehap. Da die Dehap jedoch landesweit, wie schon 1999, unter der Zehnprozentgrenze blieb, fielen die meisten Sitze aus dem Südosten ebenfalls an die AK Parti.

Nach dem Wahlkampf beginnt nun für Tayyip Erdogan und sein Team der Kampf mit dem zweiten Souverän des Landes, dem Militär. Aufgrund der islamischen Tradition, aus der die AK Parti kommt, steht ihr das Militär, vorsichtig formuliert, skeptisch gegenüber – wie auch die bisherige zivile Führungs- und Verwaltungselite. Der oberste Wahlausschuss hatte Tayyip Erdogan aufgrund einer früheren Verurteilung wegen „Volksverhetzung“ das passive Wahlrecht aberkannt, sodass er nicht selbst für das Parlament kandidieren durfte. Zehn Tage vor der Wahl forderte der Generalstaatsanwalt, Erdogan müsse auch den Parteivorsitz niederlegen, andernfalls werde er das Verbot der gesamten Partei beantragen. Erst vor vier Tagen entschied das Verfassungsgericht, das Begehren erst nach der Wahl zu behandeln. Es schwebt also noch ein Verbotsverfahren über den Wahlsiegern.

Das erste Zeichen für die zukünftige Zusammenarbeit zwischen der kemalistischen Elite und der AK Parti wird der Staatspräsident setzen. Ahmet Necmet Sezer, vormals oberster Verfassungsrichter des Landes, ist überzeugter Kemalist, aber genauso überzeugter Demokrat. Er muss nun den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen, was im Moment nicht ganz einfach ist, weil die AK Parti noch keinen Kandidaten benannt hat, der unter Tayyip Erdogan Ministerpräsident werden soll. Erster Anwärter wäre der prominenteste Stellvertreter Erdogans, Abdullah Gül, ein weltgewandter, erfahrener Politiker, der nur den Nachteil hat, dass seine Frau, wie Frau Erdogan auch, Kopftuch trägt und deshalb in der laizistischen Türkei bei offiziellen Anlässen nicht auftreten kann. Da die AK Parti jede Konfrontation um das Kopftuch vermeiden will, wird jetzt spekuliert, dass die Parteiführung einen Quereinsteiger vorschieben könnte, der sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass seine Frau sich „nicht bedeckt“, also kein Kopftuch trägt. Bereits bei der Aufstellung der Kandidatenliste hatte die AK Parti darauf geachtet, dass nur „unbedeckte“ Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen auftauchen, damit es im Parlament nicht – wie zu Beginn der letzten Legislaturperiode – gleich zu einer Auseinandersetzung wegen einer kopftuchtragenden Abgeordneten kommt.

Man werde alles vermeiden, erklärte Erdogan auch in der Wahlnacht immer wieder, was zu Spannungen mit dem Militär führen könnte. Noch ist in der Türkei allen in Erinnerung, wie der islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan 1996 aus einer Konfrontation mit dem Militär als klarer Verlierer hervorging und seine Regierung nach einem Jahr in der Versenkung verschwand. Das will Tayyip Erdogan auf jeden Fall vermeiden. Er ist deshalb ohne Einschränkungen bereit, die außenpolitischen Vorgaben des Nationalen Sicherheitsrates zu übernehmen. Das bedeutet, weiterhin stillschweigende Unterstützung für die USA in einem Irakkrieg und auf Zypern eine Lösung, mit der die Militärs leben können. Für eine Integrationspolitik in Richtung EU bedarf es bei der AK Parti keines Drucks von außen, denn die Partei erwartet von einer Erweiterung der persönlichen Freiheitsrechte, wie die EU sie fordert, auch größere religiöse Freiheiten. Außerdem will die Partei auch aus ökonomischen Gründen den Anschluss an Europa. Wirtschaftlich setzt die AK Parti durchaus auf mehr Markt und weniger Staat und ist deshalb bei den Unternehmern weit weniger verschrien als bei den Militärs. Auch die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds soll fortgesetzt werden.

Sakip Sabanci, Eigentümer der zweitgrößten Holding des Landes, äußerte sich noch in der Wahlnacht ausgesprochen positiv zum Sieg der AK Parti. „Endlich, nach mehr als zwanzig Jahren“, so Sabanci, „haben wir wieder eine stabile Ein-Parteien-Regierung, die in der Lage ist, die notwendigen Reformen durchzusetzen.“ Und auch der frühere türkische Wirtschaftsminister Kemal Dervis von der CHP-Opposition betonte, der Wahlausgang sei „keine Katastrophe“. Er begrüßte, dass Tayyip Erdogan das Thema Europa als erste Aufgabe der neuen Regierung bezeichnet habe, und versicherte: „Die Türkei bleibt ein europäisches Land.“

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