: Der kleine Wohlstand ist bedroht
aus dem Molise MICHAEL BRAUN
„Provincia“ – „Provinz“ verkündet das Hinweisschild im Zentrum von Campobasso. Eigentlich ist die Provinzverwaltung gemeint, aber auch sonst passt das Schild. Campobasso schmückt sich mit dem Titel „Regionshauptstadt“, doch hauptstädtisch ist an der 50.000-Einwohner-Stadt wenig. Zwei- und dreistöckige Häuschen vom Anfang des letzten Jahrhunderts flankieren die Flaniermeile. Auffallend sind im Zentrum bloß die Carabinieri-Kaserne, der Justizpalast im protzigen Mussolini-Stil und das überdimensionierte Rathaus.
Gewiss, abends füllt sich die Hauptstraße mit tausenden Menschen, bummeln, diskutieren in Grüppchen. Aber das missversteht hier keiner. So ist eben Provinzleben, süditalienisches Provinzleben. „Wir sind doch die dritte Insel Italiens“, sinniert der junge Mann am Tresen der Bar, „wir sind genauso weitab wie Sizilien oder Sardinien, und das, obwohl es von Rom zu uns bloß 240 Kilometer sind. Aber kaum ein Italiener kennt das Molise oder hätte gar seinen Fuß hierher gesetzt.“
Dann setzt er nach, erklärt, dass kaum eine Ecke des Mezzogiorno so vernachlässigt sei in der Wahrnehmung der italienischen Öffentlichkeit. Das letzte Erdbeben Ende Oktober habe endlich dafür gesorgt, „dass die Leute überhaupt wissen, wo unsere Region liegt“. Dabei brauche das Molise sich nicht zu verstecken: Schließlich sei die Region „der Norden des Mezzogiorno“.
In der Tat: Die Hausfassaden demonstrieren bescheidenen Wohlstand, während die sonst im Süden allgegenwärtigen, illegal hochgezogenen und alles verschandelnden Bauruinen fehlen.
Norden des Südens – das meint auch Piero Notarangelo, der sich um die Wirtschaftsplanung der Region kümmert. Ihn zu finden, ist keine leichte Übung: Der Sitz der Region erinnert weniger an ein Regierungsgebäude als an ein bescheidenes Wohnhaus, im Hinterhof gelegen mit Blick auf Balkone und Wäscheleinen der Nachbargebäude. Klar stehe das Molise viel besser da als Kalabrien oder Sizilien, erklärt der braun gebrannte Regionsfunktionär. Aber all das sei bloß erreicht worden, weil die Europäische Union das Molise als „Ziel 1“-Gebiet klassifiziert habe und deshalb Subventionen aus Brüssel und Rom geflossen seien. Schon jetzt aber laufe die Förderung allmählich aus, sagt Notarangelo, und 2006 sei endgültig Schluss mit „Ziel 1“. Großinvestitionen wie die Geflügelfabrik Arena Holding oder das Motoren- und Getriebewerk des Fiat-Konzerns in Termoli gehören nach Einschätzung des Beamten dann wohl der Vergangenheit an.
Ein Pessimismus, der ansteckend sein muss. Lorella Palladino von der Handelskammer erklärt über Statistiken gebeugt, das Ende der EU-Förderung komme zu früh. Schließlich seien die Infrastrukturen, sei vor allem die Anbindung des Molise ans nationale und europäische Verkehrswegenetz dramatisch unterentwickelt. Und schließlich sei noch viel zu tun bei der Unterstützung jener Kleinbetriebe, die auf die eigentlichen Ressourcen des Molise setzten, auf Käse- oder Weinproduktion zum Beispiel. Auch Candido Paglione, Fraktionschef der oppositionellen Linksdemokraten im Regionsparlament, spricht von verpassten Chancen. Unter der bis 2001 amtierenden Mitte-links-Regierung sei endlich die Entwicklung der wahren Potenziale des Molise angegangen worden, habe man Synergien zwischen Landwirtschaft, traditioneller Produktion und dem bisher vollkommen unterentwickelten Tourismus zu schaffen gesucht, ganz im Geiste nachhaltiger Entwicklung. Aber davon wolle die jetzt regierende Rechte nichts wissen. Und Pietro Iocca, Regionschef des Gewerkschaftsbunds CISL, zeigt auf die drei jungen Männer, die in der Pförtnerloge des Gewerkschaftshauses Dienst schieben. „Die werden todsicher früher oder später abwandern, wir haben eine Jugendarbeitslosigkeit von 45 Prozent. Abgesehen davon wissen wir generell nicht, was die Zukunft bringt. Die positiven Zahlen verdanken sich doch bloß einigen wenigen Investoren wie Fiat oder Arena.“
Mitten auf der Wiese steht die „Arena-Holding“, 20 Kilometer vor Campobasso. Rocco Aprile ist ein nicht mal dreißigjähriger alerter Jungmanager, zuständig für Staats- und EU-Zuschüsse. Er macht kein Geheimnis daraus, dass die Firma ohne das Geld von der EU heute hier nicht mehr stünde. 600 Leute schlachten in sich endlos aneinanderreihenden, weiß gekachelten Räumen täglich 300.000 Hühner, verpacken sie oder verarbeiten sie mit modernstem Gerät weiter zu Cordon-Bleu, Hühnchen-Burgern und allerlei anderen Fertiggerichten. Nach ihrer schweren Krise habe das Management die Firma 1997 dank der massiven Bezuschussung erneuern können, sagt Rocco Aprile. Bei einem Investitionsvolumen von 25 Milliarden Lire seien 15 Milliarden Subventionen geflossen. Weitere Investitionen in Höhe von gut zehn Millionen Euro im laufenden Jahr werden mit 4,4 Millionen Euro bezuschusst.
Von solchen Zuschüssen kann Franco Di Nucci nur träumen. Sein Apenninendorf Agnone ist bloß über kurvenreiche Bergstraßen zu erreichen. Wie ein Denkmal aus vergangenen Zeiten grast eine Schafherde längs der Straße, und der Hirte sitzt hoch zu Ross. „Käse wie der Urgroßvater meines Großvaters“ produziert Di Nucci, aus Rohmilch ohne jede chemische Zutat und ohne jede thermische Bearbeitung. Er verschafft damit 10 Angestellten und 20 Milchbauern Arbeit. Seine Delikatessen werden mittlerweile in renommierten Gourmetführern erwähnt – nicht aber in den Förderprogrammen des „Ziel 1“.
Wenn Di Nucci Glück hat, kriegt er für die gerade abgeschlossenen Investitionen 15 Prozent Subventionen, die im Bau befindliche Schuhfabrik im Nachbarort dagegen soll 42 Prozent erhalten. Viel mehr Entwicklung hätte das Molise erreichen können, wenn es nur eine politische Klasse hätte, die auf der Höhe der Herausforderungen sei, statt vollkommen untransparente Entscheidungen zu fällen und die immergleichen Industrien zu fördern, schimpft Di Nucci.
Ein Urteil, das der Winzer Enrico Di Giulio teilt. Auch er hat auf seinem Gut in Campomarino, direkt an der Adriaküste, massiv investiert, hat von 1990 bis 1995 über zwei Millionen Euro ausgegeben, um von lose verkauftem Billigwein auf Qualitätsprodukte umzustellen. Mit Erfolg: Über 300.000 Flaschen setzt er mittlerweile pro Jahr ab. „Förderung? Wenn auf der Rangliste der Betriebe bis Platz 20 gefördert wurde, war ich todsicher auf Position 21.“
Dennoch macht Di Giulio das anstehende Ausscheiden des Molise aus der Ziel-1-Förderung Sorgen. Schließlich hat er wie alle Unternehmer der Region davon profitiert, dass die italienische Regierung im Süden auf etwa drei Viertel der betrieblicherseits für die Arbeitnehmer zu entrichtenden Sozialbeiträge verzichtete – und auch dieser Lohnkostenzuschuss fällt in Zukunft weg. Und das, obwohl das Molise eigentlich immer noch eine strukturschwache Region sei, auch wenn Di Giulio die Erntehelfer im benachbarten Apulien anheuern muss, weil er im Molise keine mehr findet. „Wenn Fiat Termoli in die Krise gerät, dann ist es sofort vorbei mit all den positiven Indikatoren, die immer wieder aufgezählt werden.“
Quer durch Weinfelder geht es von Campomarino ins nur sechs Kilometer entfernte Termoli. Termoli, das ist halb Badeort, halb Industriestadt: an der Strandpromenade im Zentrum die Hotels, und direkt vor den Toren der Stadt die riesigen Fertigungshallen von Fiat. Hier herrscht heute schon Krisenstimmung, auch wenn das Werk Termoli als Teil des vor zwei Jahren mit General Motors gegründeten Motoren-Joint-Ventures „Fiat-GM Powertrain“ nicht von den aktuellen Stellenstreichungsplänen bei Fiat-Auto betroffen ist. Aber in Termoli reden alle von der ungewissen Zukunft der Fabrik.
Mit Journalisten mag darüber im Betrieb kaum jemand reden, zum Gespräch bereit ist nur ein bei den Linksdemokraten politisch aktiver Manager. Das Werk verdanke seine Existenz allein der Südförderung der italienischen Regierung und der Politik der EU für die strukturschwachen Regionen, erzählt Filippo Monaco. 1972 gegründet, wurde es mit massiven, erst 1984 und dann 1994 getätigten Investitionen zur modernsten, auf hohem Robotereinsatz beruhenden Motoren- und Getriebefertigung des Autokonzerns. Allein das Investitionsprogramm von 1994 belief sich auf etwa 400 Milliarden Lire – etwa 200 Millionen Euro –, und nicht nur die 75-Prozent-Förderung machte Fiat das Vorhaben schmackhaft. „Sämtliche Ausbildungsmaßnahmen hier im Betrieb wurden öffentlich finanziert, bei den so genannten Ausbildungsverträgen übernahm der Staat zudem zwei Jahre lang komplett die Lohnkosten – und für alle Beschäftigten galt die drastische Reduzierung der Sozialbeiträge“, rechnet Monaco vor.
Für Fiat ist das ein glänzendes Geschäft: Die Investitionen haben sich schon lange amortisiert. Und der Region hat das Werk heiß ersehnte Arbeitsplätze gebracht: Über 3.000 Menschen leben direkt vom Werk, und etwa 9.000 arbeiten bei Zulieferern und Dienstleistern. Keine der 165 Kommunen hat nicht wenigstens einen Einwohner, der bei dem Automobilkonzern arbeitet, und die regionale Buslinie sorgt mit speziellen Verbindungen dafür, dass noch das letzte Bergdorf über eine Direktanbindung an den Großbetrieb unten am Meer verfügt.
Monaco fürchtet das anstehende Ausscheiden des Molise aus der EU-Förderung für strukturschwache Gebiete. „Gewiss, wir haben viel erreicht. Aber aus eigener Kraft sind wir auch heute noch nicht im Stande, Investitionen anzuziehen. Es ist doch bezeichnend, dass kein einziger bedeutender Investor mehr in die Region gefunden hat, seitdem das Auslaufen der Subventionen feststeht.“
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