Architekturgeschichte der Vielheit: Von wegen edle Einfalt

Die Vorlesungen des Philosophen Klaus Heinrich über Giovanni Piranesi wurden neu aufgelegt. Sie ziehen weite Stränge durch die Architekturgeschichte.

Ausschnitt aus einer Zeichnung von Piranesi

An der Zerrissenheit festhalten. Skizze von Piranesi von 1761, auf die Klaus Heinrich sich bezieht (Ausschnitt) Foto: Artokoloro/imago

Eigentlich verbat sich der Berliner Philosoph Klaus Heinrich das Aufzeichnen seiner Vorlesungen. Getragen von platonischer Schriftskepsis, lag ihm der freie Vortrag mehr. Dank der Abschriften engagierter Stu­dent*in­nen sind seine Vorlesungen am Dahlemer Institut für Religionswissenschaft, an dem Heinrich bis zu seiner Emeritierung 1995 lehrte, trotzdem erhalten geblieben.

Bis 2018 veröffentlichte der Frankfurter Stroem­feld Verlag diese als Teil von Heinrichs Gesamtwerk. Nach einer Insolvenz übernahm der Freiburger ça ira-Verlag die Aufgabe, Heinrichs Schriften weiterzuverbreiten oder bisher Unzugängliches zu erschließen. Bereits 2021 erschienen dort in Kooperation mit der Berliner Architekturzeitschrift Arch+ die am Ende der 1970er Jahre gehaltenen Vorlesungen zum architektonischen Nachleben des Klassizismus im Nationalsozialismus.

Die nun in zwei Bänden publizierten Vorlesungen vom Wintersemester 1978/79 über den italienischen Architekten ­Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) ergänzen diese Auseinandersetzung. Er gilt Klaus Heinrich als Kontrast zu einem unsinnlichen Klassizismus, wie er vor allem in den Schriften des Archäologen Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) zum Ausdruck kommt.

Der „edlen Einfalt und […] stillen Größe“ der von Winckelmann gerühmten Laokoon-Gruppe hält Piranesi die „Trophäen des Marius“ – ein antikes Skulpturenensemble, das Sixtus V. 1590 auf das Kapitol gebracht hatte – entgegen und damit am Zerrissenen fest.

Arch+/ça ira-Verlag (Hrsg.): „Klaus Heinrich. Dahlemer Vorlesungen. Giovanni Battista Piranesi“. Berlin/Freiburg 2024, 2 Bände, 28 Euro

Derart ergreift der Architekt laut Heinrich Partei für ein psychoanalytisches Verständnis der Künste: Statt immer wieder das Alte durch das Neue zu ersetzen, sollen sie eine gründliche Auseinandersetzung mit der verdrängten Geschichte leisten. Im zweiten Band der Ausgabe wird sichtbar, wie dieses Verfahren funktioniert. Er versammelt die von Heinrich in seinen Vorlesungen immer wieder aufgerufenen Bilder.

Die Vielheit bewahren

Allerdings nicht als bloße Illustration des Gesagten. Die Bilder entfalten eine „Argumentation für sich“. Sie werden nicht chronologisch nach Vorlesungen sortiert abgedruckt, sondern vollziehen „im großen Bogen […] Heinrichs Gedankengänge des gesamten Semesters“ nach, wie die Herausgeber schreiben.

Deshalb kann der Band auch ohne Kenntnis von Heinrichs Ausführungen im ersten Band gelesen oder (besser) durchgesehen werden. Er bildet einen eigenen Kosmos, der die Be­trach­ter*in­nen beständig zum Assoziieren einlädt. Die Herausgeber ziehen daher mit einigem Recht Parallelen zu Aby Warburgs unvollendetem Spätwerk, dem Bilderatlas „­Mnemoysne“.

Der deutschjüdische Kunsthistoriker versuchte bis zu seinem Tod 1929, das Fortleben der Antike durch die assoziative Kombination von Kunstwerken nachzuzeichnen. Heinrichs Version des Bilderatlas macht durch die asynchrone Zusammenstellung von Einzelbildern und kurzen Textpassagen plötzlich ungeahnte Linien sichtbar, ohne jedoch deren Zwangsläufigkeit zu behaupten.

Im Band folgt zum Beispiel auf die bekannte Darstellung „Turmbau zu Babel“ von Pieter Bruegel dem Älteren (1563) eine Abbildung von Albert Speers deutschem Pavillon zur Pariser Weltfachausstellung 1937. Bei diesem mit einem Hakenkreuzadler gekrönten Marmorturm ist „alles zugerichtet, in dieser stereometrisch maschinenteilhaften Form zur Raison gebracht“.

Dagegen bewahrt sich der „Turmbau zu Babel“ laut Heinrich die „Vielheit“. Er trägt sichtbar die Spuren menschlicher Hybris und kann daher Ausdruck der verdrängten Menschheitsgeschichte sein.

Der Effizienz widersagen

Heinrich stärkt auf diese Weise ein historisches Verständnis von Architektur, das nicht dem Historismus verfällt. Seine Vorlesungen erheben deshalb auch Einspruch gegen ein geschichtsvergessenes Bauen, wie es zum Beispiel in der Neuen Frankfurter Altstadt oder im Berliner Stadtschloss zum Ausdruck kommt. Solche Rekonstruktionen lassen sich mit Heinrich als „nostalgisches Anliegen zur Wiederherstellung eines Idealbilds von Vergangenheit“ entlarven, wie Herausgeber Anh-Linh Ngo schreibt.

Beide Bände weisen über sich selbst hinaus: Sie zeigen auf, was an der Vor-Bologna-Universität möglich war. Heinrichs Vorlesungen machen eine intensive Befassung mit Gegenständen sichtbar, deren Relevanz manchmal erst nach Jahrzehnten verständlich wird.

Sie behaupten die Utopie einer Lehre, die einem reflexionsfeindlichen „Forschungspositivismus“ und der „Effizienz“ widersagt, wie es Heinrich 1987 ausdrückte. Der Philosoph wusste, wovon er sprach: Noch als Student hatte er nach dem Krieg die Freie Universität Berlin unter großen Hoffnungen mitgegründet.

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