Arbeitsunfälle auf Baustellen: Tod als Berufsrisiko
Die Berufsgruppe der Bauarbeiter:innen meldet jährlich zahlreiche Unfälle. Fehlende Kontrollen und vertuschte Vorfälle verschärfen die Situation.
Im Februar verletzte sich ein 51-jähriger Bauarbeiter im baden-württembergischen Kreis Esslingen lebensgefährlich auf einer Baustelle. Wie die Esslinger Zeitung berichtet, betrat er ein Garagendach, als dieses noch nicht vollständig gesichert war. Dabei brach er durch die Lattung und stürzte mehrere Meter in die Tiefe. Beispiele wie dieses gibt es viele: Bauarbeiter:innen bilden die Berufsgruppe, die mit 49 Unfällen pro 1.000 Beschäftigten im Jahr 2020 das höchste Maß an Unfällen vermeldete. Von Januar bis September 2021 sollen 69 Bauarbeiter:innen während der Berufsausübung gestorben sein. Gehört das zum Berufsrisiko oder werden die Bauarbeiter:innen unnötigen Gefahren ausgesetzt?
Dass Unfälle auf dem Bau zum Alltag gehören, beobachtet auch Thimo Mertens, der eigentlich anders heißt und anonym bleiben möchte, um seine Jobchancen nicht zu gefährden. Seit 13 Jahren arbeitet er als Bauarbeiter. „Dass die offizielle Zahl der Todesfälle auf Baustellen so niedrig ist, wundert mich eher“, sagt Mertens. Allein in seiner Gegend habe er von sechs Todesfällen auf dem Bau innerhalb eines Jahres gehört. „Realistischer würde es klingen, wenn es hieße: Jeden Tag sterben vier Bauarbeiter:innen“, kommentiert er.
Denn auf Baustellen ereigneten sich täglich hochgefährliche Situationen. „Da ist immer auch viel Glück dabei, wenn das nicht tödlich endet.“ Er schildert als Beispiel den Fall eines ehemaligen Klassenkameraden, der auf einem Dach rückwärts laufend ein Kabel ausrollte. Dabei fiel er mehrere Stockwerke hinab in einen Innenhof. Zu seinem Glück landete er auf einem Sandhaufen, der seinen Sturz abfederte. Dabei trug er „nur“ ein gebrochenes Bein und ein Schädelhirntrauma davon.
In diesem Fall verlief alles so, wie es sollte: Der Unfall wurde gemeldet und der Bauherr wurde zur Verantwortung gezogen, weil das Dach nicht ausreichend gesichert war. Doch so laufe es nicht immer. „Es ist definitiv gang und gäbe, dass Unfälle auf Baustellen vertuscht werden“, so Mertens. Es käme vor, dass ein Bauarbeiter sich auf dem Bau eine Schnittwunde am Bein zuzieht und dann von den Kolleg:innen vor dem Krankenhaus abgesetzt wird. Dort erzähle der Bauarbeiter etwa, dass er zwischen zwei Autos geraten ist. Doch warum sollte ein:e Bauarbeiter:in in so einer Situation lügen?
Der Druck ist hoch
„Die Leute werden von den Vorarbeiter:innen ihrer Firmen unter Druck gesetzt“, erklärt Mertens. Diese wiederum würden von den Bauherren dazu gedrängt. Die Drohung laute dann: „Wenn der Bauarbeiter das bei der Berufsgenossenschaft meldet, dann bekommt ihr nie wieder einen Auftrag von uns.“ Gerade ausländische Arbeiter:innen wüssten nicht, welche Rechte ihnen eigentlich im Falle eines Unfalls zustehen. Wegen des hohen Drucks seitens des Bauherren machten sie dann einfach mit.
Auch Gerhard Citrich, der bei der Industriegewerkschaft Bau (IG Bau) für den Bereich Arbeitsschutz zuständig ist, glaubt, dass die Dunkelziffer bei Unfällen auf dem Bau hoch ist. Dass verletzte Bauarbeiter:innen nach dem Unfall auf dem Bau zum Hausarzt gehen und dort eine erlogene Geschichte erzählen, sei eine gängige Vertuschungsmethode. Auch habe er davon gehört, dass eine behördliche Aufsichtsperson an eine Baustelle gerufen wurde, weil dort ein Unfall passiert war, die verletzte Person dann aber nicht auffindbar war. Seine Vermutung: Bei den Verletzten handelte es sich um illegal arbeitende Bauarbeiter:innen, die von der Bildfläche verschwinden.
Wird ein Unfall gemeldet, kann es gut sein, dass die Berufsgenossenschaft ganz genau untersucht, wie es dazu kam. Wenn gravierende Mängel vorliegen, kann eine Baustelle auch mal drei Tage stillgelegt werden. Außerdem: „Je mehr Arbeitsunfälle ein Betrieb vermeldet, desto höher der Beitrag, der an die Berufsgenossenschaft gezahlt werden muss“, so Citrich. Soll heißen: Der Bauherr spart Geld, wenn der Unfall vertuscht wird.
„Das Problem ist, dass jede Baustelle anders ist“, sagt der Gewerkschafter. Er stellt fest: Vieles auf dem Bau werde improvisiert, oft würden Utensilien fehlen. Laut Bericht der IG Bau ereignen sich die meisten Unfälle durch herabfallende Gegenstände und Sturz aus der Höhe.
Wo sind die Kontrollen?
Klassische Unfälle passierten, wenn etwa beim Gerüst ein fehlender Schutz dazu führt, dass Teile des Gerüsts herunterfallen, erzählt Citrich. „Manche Unfälle geschehen aber auch schlichtweg, weil die Bauarbeiter:innen unachtsam handeln“, so der Gewerkschafter. Oft dauere es länger, den Platz vorher ausreichend zu sichern, als die Arbeit selbst. „Diese Zeit wollen manche sich sparen.“
Er ist überzeugt: „90 Prozent der Unfälle hätten vermieden werden können, wenn alles vernünftig laufen würde.“ Doch ob alles rechtmäßig abgesichert ist, muss in letzter Instanz von den Aufsichtspersonen des Gewerbeaufsichtsamts des Landes überprüft werden.
Sie können die Baustellen regelmäßig kontrollieren und auf Sicherheitsdefizite reagieren, wenn es nötig ist. Aufgrund fehlenden Personals könnten diese nur bedingt ihren Aufgaben nachgehen, kritisiert Robert Feiger, Bundesvorsitzender der IG Bau Ende Januar. „Die Arbeitsschutzbehörden in den Ländern haben nicht die nötigen Kapazitäten, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz für die Beschäftigten wirksam zu kontrollieren“, so Feiger. Es handele sich hierbei um ein „eklatantes Überwachungsdefizit“ in den zuständigen Landesbehörden.
In Deutschland ist laut einem aktuellen Bericht des Bundesarbeitsministeriums eine Aufsichtsperson für knapp 25.000 Beschäftigte in sämtlichen Gewerben zuständig, berichtet die IG Bau. Von der Internationalen Arbeitsorganisation der Europäischen Union empfohlen ist ein Kontrolleur auf 10.000 Beschäftigte. Damit hat ein einzelner Kontrolleur in Deutschland gemessen am EU-Ziel mehr als doppelt so viel Beschäftigte zu kontrollieren. „Die Zahlen sind alarmierend. Mit einer solchen Quote ist ein effektiver staatlicher Arbeitsschutz nicht möglich“, so Feiger. Und: Durch die Pandemie hätten die ohnehin unterbesetzten Ämter außerdem zusätzliche Aufgaben wie die Kontrolle der Homeoffice-Verordnung und der 3G-Vorschriften am Arbeitsplatz bekommen.
Auch Gewerkschaftskollege Citrich beobachtet: In der Zeit der Coronapandemie hätten die Kontrollen nachgelassen. Die Aufsichtspersonen, die dafür zuständig sind zu kontrollieren, ob alle Sicherheitsvorkehrungen auf den Baustellen umgesetzt werden, arbeiteten meist vom Büro aus. Wegen des Infektionsrisikos, so laute die Begründung. Zur Baustelle selbst fahren sie nur noch, wenn sie explizit gerufen werden. Das liefe an der Realität vorbei, denn viele Probleme könne man erst vor Ort erkennen.
Was ist mit dem Arbeitsschutz?
Ein Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) kommentiert hierzu: Im Zuge der Coronapandemie hätten viele Schwerpunktkontrollen stattgefunden, etwa im Bereich der Fleischindustrie oder bei Saisonbeauftragten in der Landwirtschaft. Das könnte dazu geführt haben, dass Ressourcen für die Beaufsichtigung des Bausektors reduziert wurden. Auch, weil dieser Bereich „günstigere Rahmenbedingungen im Bezug auf den betrieblichen Infektionsschutz“ aufweise. Heißt: Hier ist eine Infektion am Arbeitsplatz weniger wahrscheinlich, etwa weil oftmals an der frischen Luft und auf Abstand gearbeitet wird.
Was unternimmt das BMAS hierzu? Der Arbeitsschutz wird in Deutschland auf Länderebene geregelt. Das Ministerium kann aber Anforderungen an die Länder stellen: Sie wurden vom BMAS dazu aufgefordert sicherzustellen, dass bis 2026 mindestens 5 Prozent aller Betriebe von den zuständigen Aufsichtsbehörden besichtigt werden, so der Sprecher des BMAS. Dieser Übergangszeitraum sei unumgänglich, da er benötigt werde, um geeignete Aufsichtsbeamt:innen zu akquirieren und auszubilden.
Fragt man den Bauarbeiter Mertens, ob er auf einer Baustelle schon mal von Behörden kontrolliert wurde, erzählt er von einem einzigen Mal – in 13 Jahren. In dieser Zeit hat er auch schon einen Todesfall auf einer Baustelle miterlebt. Das Verhältnis von Kontrollen des Gewerbeaufsichtsamts und miterlebten Todesfällen liegt bei ihm also bei 1:1. Eine Quote, die sicherlich nicht wünschenswert ist. Damit es besser läuft als bisher, wünscht sich auch Mertens verstärkte Kontrollen.
Denn die Arbeit auf der Baustelle bleibt ein Knochenjob. Wenngleich heute mehr maschinell läuft als früher: Irgendwer muss die schweren Fliesen noch schleppen, um die 400.000 neuen Wohnungen zu bauen. Wertschätzung verdienen Bauarbeiter:innen also allemal. Nicht zuletzt auch in Form eines richtigen Maßes an Sicherheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten