Arbeitsbedingungen auf dem Feld: Auch Frauen ernten Erdbeeren
Immer mehr wird in Deutschland über die Arbeitsbedingungen von Erntehelfer:innen gesprochen. Gut so. Doch Frauen bleiben dabei meist unsichtbar.

V or ein paar Tagen habe ich zum ersten Mal in diesem Jahr Erdbeeren gekauft. Während ich die Schale nach Hause trug und mir verbat, eine ungewaschen zu snacken, waren in meinem Kopf nur Erdbeeren und immer mehr Fragen. Wie konnten die so rot werden, auf einem Erdbeer- und Spargelhof im Süden Hamburgs, nach monatelangem November? Und: Wer hat die gepflückt?
Im vergangenen Jahr interessierten sich plötzlich sehr viele dafür, wer unsere Erdbeeren erntet und den Spargel sticht. Beziehungsweise, wer es in der Pandemie plötzlich nicht mehr tun würde. An dieser Debatte ließen sich viele schreckliche Dinge deutlich machen, über Deutschland, die Wirtschaft und die Welt. Was im letzten Jahr in all dem Chaos aber übersehen wurde: Erntehelfer sind immer männlich.
Das ist natürlich Blödsinn. Erntehelfer:innen haben verschiedene Geschlechter. Aber denken Sie mal an einen Spargelstecher. Wen haben Sie da vor sich? Nicht nur das an dieser Stelle ausgelassene Gendern der Berufsbezeichnung verstärkt diese Vorstellung, sondern auch das Wort an sich: ein Spargel-Stecher.
Während ich mir zu Hause die mittlerweile gewaschenen und wirklich schon sehr süßen Früchtchen in den Mund schob, googelte ich „Frauenanteil Erntehelfer Statistik“. Zahlen zur Geschlechterverteilung konnte ich nicht finden, dafür, dass 95 Prozent der Erntehelfer:innen Ausländer:innen sind. Und dass es überhaupt wirklich Spargelstecherinnen und Erbeerpflückerinnen gibt, natürlich. Warum erzähle ich das trotzdem? Erstens aus Prinzip. Frauen sollten überall sichtbar sein, als Abteilungsleiterin, als Pflegerin und eben auch als Erntehelferin. Zweitens erleben Erntehelferinnen Dinge, die sich auf ihre Kollegen nicht oder anders auswirken.
Im Podcast „Warum eigentlich?“ berichtet Lisa Bolyos von der Organisation „Sezonieri“, die in Österreich für die Rechte von Erntearbeiter:innen kämpft: Arbeiterinnen oder ihre Partner:innen, die unter sehr schweren Bedingungen Gemüse anbauten, hätten ihnen erzählt, dass sie sich Kinder gewünscht hätten. Schwanger seien sie aber nicht geworden. „Als sie nach einem Arbeitskampf aufgehört haben, dort zu arbeiten, war es ihnen möglich, sich den Kinderwunsch zu erfüllen“, sagt Bolyos. „Das hat mich deswegen so beeindruckt, weil es bei der körperlichen Gesundheit, aber eben auch bei der seelischen Gesundheit Bände spricht.“
Die Journalistinnen Pascale Müller und Stefania Prandi haben schon vor Jahren recherchiert, dass Tausende Erntehelferinnen in Europa sexuell belästigt, beleidigt und vergewaltigt werden. Wenn Arbeitgeber:innen und Politiker:innen also die Ausbeutung ausländischer Erntehelfer:innen zu stoppen gedenken, würde dazu auch gehören, geschlechtsspezifische Aspekte mitzudenken.
Ich habe noch weiter überlegt und gemerkt, dass auch Lieferando-Fahrer:innen in meinem Kopf vor allem Männer sind. Wussten Sie eigentlich, dass Anfang der 1970er Jahre von den Gastarbeiter:innen jeder Dritte eine Frau war?
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!