Arbeitsausstand im Personennahverkehr: Streik in vollen Zügen
Thomas Heimbürger lässt seine Straßenbahn im Depot. Er streikt, so wie Zehntausende. Pendler müssen nun umsteigen.
Thomas Heimbürger, 49, schiebt seit Mitternacht Schicht im Streikbüro, einem schmucklosen Aufenthaltsraum neben den Abstellgleisen. Nach neun Stunden im Einsatz will er eigentlich nach Hause. Doch dann gibt er gerne Auskunft. Seit 26 Jahren fährt Heimbürger Straßenbahnen, fast genauso lange ist er Gewerkschafter. Er trägt ein Verdi-Shirt mit der Aufschrift „Revolution 2.0“. Viele Arbeitskämpfe habe er erlebt: „Bei diesem Streik ist alles anders“, räumt er ein.
Worum geht es? Mit den Warnstreiks will die Gewerkschaft Verdi bundesweite Verhandlungen über einen einheitlichen Tarifvertrag für die rund 87.000 Beschäftigten im ÖPNV durchsetzen. Derzeit werden in den 16 Bundesländern jeweils eigene Tarifverträge mit den kommunalen Arbeitgeberverbänden ausgehandelt. Dabei hätten sich aus Sicht der Gewerkschaft viele Regelungen auseinanderentwickelt, etwa was Arbeits- und Urlaubszeiten angeht. Die regionalen Verträge sollen deshalb um eine bundesweite Tarifregelung ergänzt werden.
Wer zahlt für den ÖPNV? Die Verkehrsbetriebe finanzieren sich in der Regel zur Hälfte über den Verkauf von Fahrkarten und Abos. Die andere Hälfte kommt von den Kommunen, die dafür wiederum über die sogenannten Regionalisierungsmittel Geld vom Bund erhalten. In der Coronapandemie hatten Bund und Länder zugesagt, die hohen Verluste der Betriebe mit jeweils 2,5 Milliarden Euro auszugleichen.
Was sagen die Arbeitgeber? Die Arbeitgeberseite hat Verhandlungen über einen bundesweiten Tarifvertrag bisher mit der Begründung abgelehnt, dass bei den gleichzeitig stattfindenden regionalen Tarifverhandlungen die gleichen Themen behandelt würden. Die Warnstreiks verurteilt die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber als „Anschlag auf die Allgemeinheit“. (dpa, taz)
In Frankfurt gibt es keine Demonstrationen, keine Reden, kaum Fahnen und schon gar keine Menschenansammlungen – wegen der Coronapandemie. Im Streikbüro halten sich an diesem Morgen nur ein Dutzend KollegInnen auf, alle mit Mundschutz. Neben einem Getränkeautomat werden auf einem Tisch Streiklisten geführt. „Wir haben mit dem Arbeitgeber vereinbart, dass sich unsere Kolleginnen in die Streiklisten eintragen und dann nach Hause gehen“, erklärt der Betriebsrat den Streik im Coronaformat.
Es ist der erste große Streik unter Coronabedingungen in Deutschland, und er könnte nicht nur Auswirkungen auf die Streikenden haben, sondern auch auf diejenigen, die trotzdem irgendwie zu ihren Arbeitsplätzen kommen müssen. Das Virus verzeiht kein Gedränge.
Keine Abstandsregel in der S-Bahn einzuhalten
Wie an vielen Straßenbahn- oder U-Bahn-Haltestellen irren in Frankfurt an der Station Bonames Mitte Kinder und Erwachsene umher. An normalen Tagen fahren hier im Minutentakt U-Bahnen stadtein- und auswärts. Vom Warnstreik erfahren viele erst durch das Schriftband auf der Anzeigetafel. Wenigstens die Busse fahren, anders als in manchen Kommunen. Mit dem 27er erreicht man von hier aus immerhin die S-Bahn-Station Frankfurter Berg, allerdings nur alle Viertelstunde. Die Sitzplätze im Bus reichen nicht aus. Die S-Bahn ist von dem Streik nicht betroffen, weil sie als Bahntochter nicht zu den kommunalen Arbeitgebern gehört. Auf den belebten Bahnsteigen und in den überfüllten Zügen sind Abstandsregeln kaum einzuhalten.
Mehr Menschen als sonst sind in der Innenstadt mit dem Auto, Fahrrad oder zu Fuß unterwegs. Lange Staus sind die Folge. Die Verkäuferin im Reformhaus am Frankfurter Dornbusch öffnet das Geschäft am Morgen etwas atemlos. Auch sie hatte erst an der U-Bahn-Station vom Ausstand erfahren und musste deshalb durch die halbe Stadt radeln. Das fand sie ziemlich ärgerlich, zumal sie nicht weiß, worum es bei dem Warnstreik überhaupt geht.
Das ist auch nicht ganz so einfach, räumt der Verdi-Mann Heimbürger ein. Es laufen nämlich gleichzeitig drei Tarifrunden, erklärt er. Neu verhandelt werden zum einen die Tarife im öffentlichen Dienst, da kam es schon am Montag ebenfalls zu ersten Streiks in Kitas und Krankenhäusern. Zum Zweiten geht es um die Tarife für die im öffentlichen Personennahverkehr Beschäftigten in den Ländern. In Hessen war die erste Verhandlungsrunde am Montag wie erwartet ohne Ergebnis vertagt worden. In einer dritten Runde will Verdi zudem etwas Neues erreichen, nämlich einen bundeseinheitlichen Rahmenvertrag für den öffentlichen Nahverkehr. Vor zwei Wochen haben die Arbeitgeber diese Verhandlungen abgebrochen. Einen solchen Rahmentarifvertrag lehnen sie kategorisch ab.
Gewerkschaft will Verhandlungen erzwingen
Mit den Warnstreiks will Verdi die Wiederaufnahme genau dieser Verhandlungen erzwingen. „Während der Coronakrise waren wir die Helden, wenn uns jetzt die Arbeitgeber mit Nichtbeachtung strafen, hat das mit Wertschätzung nichts zu tun“, sagt Verdi-Mann Heimbürger. Nicht zuletzt für die Sicherheit der Fahrgäste sei es wichtig, dass im öffentlichen Nahverkehr bundesweit Mindeststandards eingeführt würden, sagt er. Zwar hielten Dienstpläne die gesetzlichen und tariflichen Vorgaben ein. In der Praxis seien die Pläne aber so eng getaktet, dass vorgeschriebene Pausen nicht eingehalten und Überstunden vorprogrammiert seien: „Die Pläne sind in der Realität nicht fahrbar“, sagt er, deshalb verweigere er als Betriebsrat immer häufiger die Genehmigung von solch unrealistischen Dienstplänen.
Seitdem vor zehn Jahren die Tarife beim Personennahverkehr vom übrigen öffentlichen Dienst abgekoppelt worden seien, habe sich die Lage stetig verschlechtert, klagt der Straßenbahner. Der Personalmangel führe zu Überstunden, die Tarife seien zu einem unübersehbaren Flickenteppich geworden. „Ich sehe nicht ein, dass ein Kollege in Stuttgart 500 Euro mehr verdient als ich hier, für die gleiche Arbeit. In Hessen stehen uns im Jahr immerhin 30 Tage Urlaub zu, warum nicht auch in allen anderen Ländern“, wirbt Heimbürger für einen Rahmenvertrag. Verdi will außerdem zusätzliche Entlastungstage, die unbefristete Übernahme aller Azubis und die Bezahlung von Überstunden und Verspätungen durchsetzen, „von der ersten Minute an“.
Die Motivation der Kolleginnen ist jedenfalls da. „Heute früh ist kein Zug rausgegangen“, zieht Heimbürger eine erste Bilanz. Wenig später wird sein Kollege Jochen Koppel, der die Warnstreiks in ganz Hessen koordiniert, von einer „Quote von 100 Prozent“ sprechen. Riskiert die Gewerkschaft mit diesem Warnstreik nicht die weitere Ausbreitung des Coronavirus, weil an Bahnsteigen, in Bussen und Bahnen an diesem Tag die Abstandsregeln nicht einzuhalten sind? „Diese Schuld werde ich nicht auf mich nehmen“, antwortet Heimbürger leicht pathetisch. Die Arbeitgeber hätten mit dem Abbruch der Verhandlungen diese Warnstreiks verursacht, sagt er und fügt hinzu: „Man muss doch mindestens miteinander reden!“
Gewerkschafter: „Der Zeitpunkt ist wirklich sehr ungünstig“
In Hamburg ist in der Nähe des Hochbahn-Betriebshofs schon von Ferne eine Kundgebung mit Verdi-Fahnen zu erkennen. Eine Gruppe Auszubildender hat ihre Rucksäcke am Kantstein abgestellt. Mit einer Schablone sprüht einer von ihnen „Wir sind unverzichtbar – jetzt seid ihr dran“ auf den Asphalt. Verdi-Landesfachbereichsleiter Natale Fontane ruft die rund 200 Streikenden per Megafon dazu auf, mehr Abstand voneinander zu halten. Und die Leute in der S-Bahn, die jetzt dichter beieinander stehen müssen? „Wir haben frühzeitig informiert, damit sich alle darauf einstellen können“, sagt Fontane, und er sagt auch: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“
Verdi-Vertrauensmann Frank Klisch steht neben einem Tisch, auf dem Streikunterstützungsformulare ausgefüllt werden können. Damit gibt es Geld von der Gewerkschaft für die versäumte Arbeitszeit. Er räumt ein, dass es bei Corona ein Dilemma gibt. „Der Zeitpunkt ist wirklich sehr ungünstig“, sagt Klisch mit Blick auf die Pandemie. Aber nachdem es die kommunalen Arbeitgeber rundweg abgelehnt hätten, überhaupt zu verhandeln, sei bundesweit mobilisiert worden. „So ein Schiff hält man nicht mal eben an.“ Und wenn so viel Geld in die Rettung großer Unternehmen wie der Lufthansa gepumpt worden sei, müsse es auch drin sein, dass die Arbeitsbedingungen für die Bus- und U-Bahn-Fahrer verbessert werden.
An der Haltestelle Schützenstraße in Hamburg-Altona regiert Dienstag früh um kurz vor sieben das Prinzip Hoffnung. Ein halbes Dutzend Menschen steht in der Dämmerung am Stopp der Buslinie 3, einer der am stärksten frequentierten Linien der Hansestadt.
Vom Streik nicht mitbekommen
Brigitte Neumann-Wrage hat nicht mitbekommen, dass schon am Vortag die Nachricht umging, dass in Hamburg wegen des Streiks nur vereinzelt Busse und gar keine U-Bahnen fahren würden. „Wenn ich das gewusst hätte!“, sagt sie. Jetzt steht sie da und hofft, dass wenigstens um ’58 ein Bus kommt, oder wenigstens um ’4. Die Laufschrift an der Haltestelle lautet: „Aufgrund des Warnstreiks der Gewerkschaft Verdi kommt es bis mindestens 12 Uhr zu massiven Einschränkungen im Busbetrieb.“
Neumann-Wrages Hoffnung reicht bis zehn nach sieben. Dann macht sie sich auf zum S-Bahnhof Holstenstraße, ein strammer Fußmarsch von zehn Minuten. Die Frau mit ihren langen grauen Haaren ist auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Ihr Fahrrad hat sie verschenkt. „Das ist mir zu hektisch geworden“, sagt sie. Im Übrigen müsse sie nach Wilhelmsburg, und das liegt auf der anderen Seite der Elbe.
Die Hamburger S-Bahn fährt, genauso wie in Frankfurt und anderen Städten. Der Bahnsteig an der Holstenstraße ist nur locker bevölkert. Im Zug Richtung Hauptbahnhof sind die Vierersitzgruppen nur mit jeweils zwei Personen besetzt, das ändert sich auch nicht auf dem weiteren Zug in Richtung Norden. Am Hauptbahnhof sagt ein Auspendler, es sei eher leerer als sonst. „Wahrscheinlich fahren die alle mit dem Auto“, vermutet er.
Anders sieht es in der Gegenrichtung aus. Hier ist der Pendlerstrom deutlich stärker. Wie üblich schweigen alle. Niemand beklagt sich.
„Ich find’s etwas unglücklich, dass während der Pandemie gestreikt wird und man in vollen Bahnen sitzt“, sagt Lucas Coronel, ein junger Mann mit Seitenscheitel, der normalerweise in der U-Bahn unterwegs ist. Er hat Glück, denn ob er die U- oder die S-Bahn nimmt, macht keinen großen Unterschied. Ein Privileg, das nicht für alle Pendler gilt.
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