Arbeiten auf dem Weihnachtsmarkt: Ein Leben am Kettenkarussell
Schausteller sind die Nomaden unserer Zeit. Auf dem Weihnachtsmarkt am Schlossplatz finden sie fünf Wochen Ruhe.
Otto Barthel richtet den Kopf von der Illustrierten zum Mikro. "Jetzt noch zusteigen, gleich gehts wieder los." Mit dem linken Knopf lässt er die blauen Lämpchen an seinem Kettenkarussell aufleuchten. "Aufgepasst! Und los!" Nächster Knopf, ein "Dött"-Signal, und das riesige Karussell setzt sich in Bewegung.
Otto Barthel sitzt in seiner kleinen, leuchtenden Kabine. Mehr als zwei Schritte kann er dort nicht machen. Links die Knopfarmatur und das staksige Mikro, rechts das Wechselgeld. Dazwischen die kleine Luke, zu der sich gelegentlich Frauen oder Mädchen runterbeugen und ihre 2 Euro für eine Fahrt durchschieben. Allzu oft ist das heute noch nicht passiert. Wahrscheinlich wegen des Wetters. Regen und Weihnachtsmarkt - das geht nicht zusammen.
Alter Hase auf dem Platz
Barthels Karussell steht auf dem Schlossplatz, auf Berlins größtem Weihnachtsmarkt. Hinten stakst das Gerippe des Palasts der Republik in den Himmel, davor rasseln die Buden. Es ist mehr Rummel als Besinnlichkeit: Freefall-Tower, Riesenrad, Autoscooter und überall Magen-umdreh-Fahrgeschäfte. Mittendrin Otto Barthel. Er wirkt irgendwie deplatziert mit seinem traditionellen Kettenkarussell. Blau-weiße Karos zieren das Gehäuse, deutsche Landschaftsbilder, Schnörkel und trompetende Engelsfigürchen.
Irgendwie passt das aber auch wieder. Ist Otto Barthel doch einer der ganz alten Hasen auf dem Schlossplatz. Obwohl man ihm die 70 Jahre nicht ansieht. Brille zwar, aber leger trägt er sein schwarzes Basecap über dem weißen Haar. Er macht einen sportlichen Eindruck. Er ist Schausteller "in der dritten Generation", betont Otto Barthel. Großeltern, Eltern, selbst seine beiden Kinder - alles Schausteller. Seine Frau hat er "auf dem Platz" kennen gelernt. Ganz Deutschland bereist Barthel mit seinem Karussell. Rund hundert Bewerbungen schickt er pro Jahr an Marktplätze, Kirmes, Volksfeste. Ankommen, aufbauen, abbauen, weiterfahren. Otto Barthel packt bis heute überall mit an. Er hat nie etwas anderes gemacht. Es ist ein Leben wie im Zirkus. Immer unterwegs, immer draußen, immer in Familie. Moderne Nomaden.
Hier auf dem Schlossplatz findet man sie noch, die ziehenden Schausteller. Hinter ihren Buden und Fahrgeschäften stehen kleine Wohnwagen. Spitzengardine am Fenster, an der Tür eine Plakette: "Sei nett, rauch woanders". Otto Barthel wohnt auch so. "Hotels kann ja keiner mehr bezahlen." Hier in Berlin aber kann Barthel abends zu seinem Einfamilienhaus nach Spandau fahren. Er hat sich einen Fixpunkt geschaffen hier, wo er geboren ist. Wo er zu Vorwendezeiten mit seinen Attraktionen kaum aus Westberlin rausgekommen ist. "Berlin ist immer Heimat."
Schon 1904 stieg sein Großvater ins Schaustellergeschäft ein. Auf einer Art Hometrainer konnten junge Männer um die Wette strampeln und Preise erradeln. Später baute der Großvater eine Rutsch- und eine "Raketenbahn". Otto Barthel war als Kind immer mit dabei. 43 Schulen hat er in seiner Jugend besucht, irgendwann seinen Volksschulabschluss geschafft. "Aus mir ist trotzdem ein Geschäftsmann geworden", lacht Barthel. Kurz hat er nach der Schule gezögert, hatte eine Ausbildung zum Schweißer absolviert - und ist dann doch geblieben. Heute stehen bereits seine Söhne mit ihren Wägen auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. "Unsere vierte Generation."
Individuelle Lebkuchen
Margarete Hollmann kann solcherlei Traditionen nicht vorweisen. Sie ist die Erste in ihrer Familie, die sich fürs Schaustellen entschieden hat. Mit ihrem Herzlmacher-Wagen steht die 55-Jährige weiter hinten auf dem Markt bei der Geisterbahn. Nach den Wünschen der Kunden beschriftet Hollmann Lebkuchen ganz individuell: "Ralf und Ute" oder "Für Oma Anna". Überall an ihrem Wagen, zwischen goldenem Lametta und falschem Tannengrün, hängen die braunen Herzen mit der knallig bunten Zuckermasse. Eigentlich war Margarete Hollmann ja Friseurin. Dann jedoch kam die Arthrose - arbeitsunfähig. Auch ihr späterer Mann Karl-Heinz litt an der Krankheit. Auf der Suche nach einer neuen Beschäftigung stießen sie über einen Freund aufs Schaustellergeschäft. "Das war unser Glück." Frische Luft, Bewegung - "Sie glauben gar nicht, wie gesundheitsfördernd das wirkt", strahlt die Frau mit den dunklen, kurzen Locken und der weißen Schürze. Die Arthrose jedenfalls hat sich seitdem nicht mehr bemerkbar gemacht.
Dass sie seit 1986 aus dem kleinen Dettenheim bei Karlsruhe nun bundesweit Lebkuchenherzen feilbieten sollte - kein Problem. "Man ist ein freier Mensch. Wir haben es nie bereut." Auch dann nicht, wenn die stete Nähe zum Ehepartner zur Herausforderung wurde. "Das ist schon schwierig. Aber man muss irgendwie Geschäft und Privates trennen", haben sich die Hollmanns zur Maxime gesetzt. Selbst in der Enge des kleinen Lebkuchenwagens.
Es entschädigt zu wissen, überall in Deutschland Stammkundschaft zu haben. Und Freunde und Verwandte, die sich zu Hause in Dettenheim um Blumen und Post kümmern. Rund alle fünf Wochen kommen sie selbst dort mal vorbei. Nach dem Berliner Weihnachtsmarkt sogar bis Anfang März. Dann haben Hollmanns Winterpause. Abrechnungen schreiben, den Wagen flottmachen, Touren planen. Fahren Schausteller eigentlich noch in den Urlaub? "Na klar, im Winter Städtereisen und im Sommer nach Rügen", lacht Margerete Hollmann.
"Das Schaustellertum ist nicht unattraktiv", konstatiert Reinhard Wittenberg. "Man führt ein freies Leben, ist unabhängig. Die Schausteller schaffen sich ihre kleine Idylle." Der Soziologe von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat zu Schaustellern und ihrer sozialen Welt geforscht. "Wir haben es heute mit einem geplanten Nomadentum zu tun." Schon Monate im Voraus müssen Touren überlegt, muss sich um Plätze beworben werden. Bestand hat aber weiterhin das Modell des Familienbetriebs. "Man bleibt sozial letztlich auf die Familie eingeengt. Es gibt Schausteller in der 17. Generation." Da werden selbst Hochzeiten und Taufen auf dem Platz gefeiert.
Problematisch sei dies vor allem für die Kinder. "Ich wüsste in meinen Untersuchungen von keinem, der Abitur gemacht hätte", so Wittenberg. Was längst nicht auf wirtschaftliche Armut schließen lässt - vielmehr ähnelten heute manche Schausteller mittelständischen Unternehmen, die mit millionenschweren Lastwagenparks durch die Lande ziehen. "Das hat auch Zukunft", ist Wittenberg überzeugt. "Der Arbeitsmarkt verlangt sowieso zunehmend Mobilität. Für Schausteller gibt es eine Nische in der Gesellschaft."
Eine Nische, in der es sich auch Helga Böttcher seit Jahrzehnten bequem gemacht hat. Trotz ihrer 77 Jahre sitzt die resolute Rentnerin noch immer in ihrer winzigen Kabine neben der "Schlitterfahrt" auf dem Schlossplatz und verkauft Fahrchips. "Meinem Sohn zuliebe", sagt sie und wiegt die graue Dauerwelle hin und her. "Na ja, zu Hause würd ich auch eingehen." Hinter ihr flitzen die Gondeln rückwärts im Kreis. Auf dem Pult neben der Kasse liegt Flocki in seinem Körbchen, ihr sechs Monate alter Zwergschnauzer.
Niemals Dienstschluss
Auch die Böttchers sind eine klassische Schaustellerfamilie. Seit vier Generationen unterwegs. Man kommt nicht los davon. Helga Böttcher, ihre beiden Söhne, zwei der fünf Enkel - allesamt Schausteller. "Die anderen drei Enkel und die beiden Urenkel sind noch zu jung. Aber das wird noch", scherzt die Seniorin. Die fünf Wochen Weihnachtsmarkt in Berlin bedeuten für sie Heimaturlaub. In Friedrichshain hat Helga Böttcher eine kleine Wohnung. Nachts um 23 Uhr, wenn die "Schlitterfahrt" ihre letzte Runde gedreht hat, fährt sie heim. Selbstverständlich bleibt sie so lange wie die anderen. "Es ist doch schön, man ist unter Leuten." Es ist das Los der Schausteller, nie Dienstschluss zu haben: Wenn die Buden geschlossen sind, werden Schrauben nachgezogen, Farben aufgetragen, Glühbirnen gewechselt.
Früher, vorm Mauerfall, hatte es Helga Böttcher mal mit einem Stückchen Sesshaftigkeit probiert. In Pankow betrieb sie ein Kinderkarussell. Zwanzig Pfennig eine Fahrt. Eine gute Zeit. Doch nach der Wende musste wieder gereist werden - in Pankow war nichts mehr zu holen. "Es ist zu schwierig geworden heute", klagt Helga Böttcher. Und wohl niemand auf dem Schlossplatz, der ihr nicht zustimmen würde. Die Konkurrenz ist groß. Allein in der Hauptstadt gibt es in diesem Jahr nach Auskunft der Senatsverwaltung 56 Weihnachtsmärkte. Zudem werden die Volksfeste und Marktzeiten immer kürzer. Also mehr Zeit für Auf- und Abbauten statt Einnahmen durchs Fahrgeschäft.
Ganz zu schweigen vom Geld, das den Leuten immer fester in der Tasche sitzt - wenn sie denn welches haben. Auch Otto Barthel stöhnt: "Die Platzmieten steigen, die Dieselpreise haben sich verdreifacht, die Stromkosten werden ständig erhöht. Und im nächsten Jahr kommt auch noch die neue Feinstaubverordnung. Dafür bekomm ich keine Ausnahmegenehmigung - und nun?" Otto Barthel wird dann wohl Schluss machen. Der Rücken kaputt, die Handgelenke auch - der Körper kommt mit der schweren Arbeit nicht mehr mit.
Vielleicht müsste man sich zusammentun. Sich wehren. Zumindest früher gab es diesen Zusammenhalt unter den Schaustellern. Freundschaften gar, die man sonst nicht findet, weil man immer unterwegs ist. "Natürlich gibts hier auch mal Knatsch", sagt Otto Barthel. "Aber wenn einer von außen Stunk macht, halten alle zusammen."
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